Inspektor Jury steht im Regen
kastanienbraun. Als sie den stechenden, schwarzen Augen Agathas begegneten, wandte Lucinda rasch den Blick ab. Agatha hatte Lucinda St. Clair nach Anzeichen von Heiratsfähigkeit abgesucht, auf die, wie Agatha zu glauben schien, solche Damen stets mit grellen Neonpfeilen hinwiesen. Dann kniff Agatha die Augen zusammen und wollte erfahren, ob sie sich schon einmal begegnet seien.
Melrose seufzte und hoffte, daß sich keine der beiden daran erinnerte. Sie waren sich in der Tat einmal, wenn auch nur sehr flüchtig, begegnet, und zwar auf einer jener gräßlichen Parties bei Lady Jane Hay-Hurt. Aber er glaubte nicht, daß Agatha das noch präsent war, denn sie hatte sich eifrig mit Lady Jane unterhalten, von der absolut keine Gefahr ausging, sich der Linie der Ardry-Plants anzuschließen und sich das Erbe unter den Nagel zu reißen. Lady Jane war buchstäblich hoch-näsig, wodurch sie einem Pekinesen ähnelte, und Agatha spielte ihr gerne Melrose zu, da ihr klar war, daß das Ardry-Plant-Vermögen dadurch nicht in Gefahr geriet. Doch in Lucinda witterte Agatha die Möglichkeit einer nachteiligen Verbindung. Sie war als eine durchaus geeignete Anwärterin in Agathas Gesichtsfeld getreten und hatte die Frechheit besessen, sich nicht sofort wieder daraus zu entfernen. Sie war jung und nett und lediglich unscheinbar. Melrose hoffte, daß niemand und nichts dem Gedächtnis seiner Tante auf die Sprünge half, denn dann würde sie sich erinnern, daß sie Lucindas Mutter Sybil begegnet war, mit der sie sich auf Lady Janes Sofa so köstlich amüsiert hatte, als sie gemeinsam über Törtchen und Leute herfielen.
«Nein, seid ihr nicht», sagte Melrose und setzte damit der Spekulation ein Ende. «Miss St. Clair hat ein wenig Ähnlichkeit mit Amelia Sheerswater.» Der Name war völlig aus der Luft gegriffen. Aber Agatha würde jetzt über diesen neuen Zuwachs in den Reihen von Melroses Frauen nachgrübeln. «Wir trinken gerade was. Was hätten Sie denn gerne?»
Lucinda St. Clair strich sich das braune Haar aus dem Gesicht und schien wegen der Getränkewahl eingehend mit sich zu Rate zu gehen.
«Wie wär’s mit einem Sherry?» schlug Vivian hilfsbereit vor. «Der Tio Pepe ist sehr gut.»
Als wäre Tio Pepe ein so seltenes, raffiniertes und abwegiges Getränk, daß es von Flasche zu Flasche, Kneipe zu Kneipe anders schmeckte, dachte sich Melrose. Aber sollte Vivian doch einfach sagen, was sie wollte. Lucinda nickte, und Trueblood rief Dick Scroggs die Bestellung zu, ehe er sich wieder zurücklehnte und eine blaue Sobranie in seine Zigarettenspitze steckte.
Alle lächelten Lucinda zu, außer Agatha, die das St. Clair-Gesicht noch immer nach verräterischen Ähnlichkeiten mit dem Sheerswater-Gesicht absuchte.
Als Dick ihren Tio Pepe brachte und mit seinem Geschirrtuch über der Schulter dastand und den Neuankömmling betrachtete, kam es Melrose in den Sinn, daß sich das Mädchen vielleicht inmitten all dieser Blicke unbehaglich fühlen könnte. Tatsächlich sah Lucinda von ihrem Glas zu ihm auf und lächelte schwach, als glaube sie, man erwarte auf dieser zwanglosen vorweihnachtlichen Zusammenkunft eine kleine Vorstellung von ihr, daß sie entweder aufsprang und etwas rezitierte oder eine hübsche Anekdote erzählte. Ihr war schließlich nicht klar, daß sich die anderen schon seit Jahren fast immer das gleiche erzählten und wie erfrischend es für sie schon war, einmal ein neues Gesicht zu sehen.
Melrose sah, wie Lucinda ein wenig tiefer in ihren Sessel glitt, und beschloß, sie zu befreien, ehe der ganze Kreis in Weihnachtsgesänge oder dergleichen ausbrach. Er griff nach seinem und ihrem Glas, lächelte und entschuldigte sie beide. «Eigentlich glaube ich, daß Miss St. Clair nach Long Piddleton gekommen ist, um sich ein wenig mit mir zu unterhalten.»
Als sie an einem Tisch neben dem offenen Kamin saßen, begann sie, sich schon wieder zu entschuldigen, weil sie die kurze Bekanntschaft ausnütze, und erzählte ihm, sie käme gerade aus Northampton zurück, wo sie Stoffe und andere Dinge abgeholt habe. «Für Mutter. Sie richtet jetzt ein Haus in Kensington ein. Sie erinnern sich an meine Mutter?»
Und ob er das tat. Sybil war früher nur Ehefrau und Mutter gewesen, ehe sie sich ganz den künstlerischen Maximen der Schöner-Wohnen-Welt verschrieb. Typisch für sie war auch, daß sie ihre Tochter zu den unangenehmen Arbeiten abkommandierte, sie mit Musterbüchern rumrennen, Vorhänge ausmessen und anpassen ließ. So
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