Inspektor Jury sucht den Kennington-Smaragd
obwohl sie das nur schwer beurteilen konnte, da er sich gerade die Nase putzte. Aber der andere, der andere ließ sie erahnen, was es bedeutete, vom Donner gerührt zu sein. Er war groß und vielleicht auch nicht wirklich gutaussehend … aber wie hätte man ihn sonst bezeichnen sollen? Als er den Arm ausstreckte, um etwas vom Rücksitz zu holen – eine Tasche? Bedeutete das, daß er bleiben würde? –, fuhr ihm der Wind durchs Haar. Er strich es zurück, wandte sich mit dem andern zusammen um und ging den Weg zum Revier hoch.
Polly starrte ins Leere und fühlte sich leicht seekrank.
Es war kurz vor zehn. Sie schaute häufig im Revier vorbei, um mit Peter Gere zu plaudern; sie waren gute Freunde, manchmal gingen sie sogar über die Straße in den Bold Blue Boy, um etwas zu essen oder einen Drink einzunehmen. Was hinderte sie also daran, einfach hinaufzugehen und sich überrascht zu zeigen – Oh. Entschuldigung, Peter, ich wußte nicht – Die Hände in den Taschen ihrer Strickjacke vergraben, ließ sie ihre Gedanken um die Szene kreisen, die sich da drinnen abspielen würde: Das Erstaunen des Fremden darüber, daß sie jene Polly Praed war (ein Name, der selbst bei ihrem Verleger keine großen Emotionen hervorrief), seine Bewunderung für ihren Scharfsinn (von den Kritikern immer nur im Zusammenhang mit der Handlung ihrer Geschichten erwähnt) und ihr Aussehen (über das sich selten jemand äußerte). Völlig absorbiert von dem fiktiven Schlagabtausch auf dem Polizeirevier, hatte sie ganz vergessen, daß sie sich immer noch draußen auf dem Trottoir befand, als sie die zornig erhobenen Stimmen hörte.
Sie drehte sich nach der Tankstelle um, wo Miles Bodenheim mit seinem Offiziersstöckchen in der Luft herumfuchtelte und Mr. Bisters Gesicht die Farbe des kleinen, roten Minis angenommen hatte, an dem er gerade arbeitete. Sir Miles machte mit seinem Stöckchen eine abschließende Bewegung und ging geradewegs auf sie zu. Sie flüchtete auf die andere Straßenseite und verschwand im Magic Muffin, der glücklicherweise gerade offen war. Es handelte sich dabei um eine Teestube, die Miss Celia Pettigrew gehörte, einer in sehr bescheidenen Verhältnissen lebenden Dame von Stand, die ihre Öffnungszeiten völlig willkürlich festzulegen schien. Man konnte nie von einer Woche auf die nächste schließen: Es war, als richtete Miss Pettigrew sich nach einem anderen Kalender als dem gregorianischen und nach einer anderen Zeit als der von Greenwich.
Polly sah Sir Miles die andere Straßenseite entlanggehen, bis er schließlich auf der Höhe der Polizeiwache angelangt war.
Sie hätte sich totärgern können.
Aus der Wache kamen Peter Gere und die beiden Fremden; sie steuerten geradewegs auf Miles Bodenheim zu. Bei dem Gedanken, daß Miles (der Blausäure in seinem Frühstücksei verdient hätte) und nicht sie in den Genuß dieser kurzen Begegnung kommen sollte, hätte sie am liebsten laut aufgeschrien. Sie beobachtete, wie Peter Gere und die andern um Sir Miles herum – und dann weitergingen – eine großartige Leistung, denn es war einfacher, eine Napfschnecke von einem Fels zu reißen, als Sir Miles loszuwerden. Die drei überquerten die Straße und die Littlebourner Grünanlage und verschwanden aus ihrem Blickfeld. Sie drückte mit ihrem Gesicht beinahe die Scheibe ein.
«Wem starren Sie denn so nach, Kind?» Die durchdringende Stimme von Celia Pettigrew ließ Polly zurückfahren; ihr Hals verfärbte sich zartrosa, während sie an einem der dunklen Klapptische Platz nahm. Das blau-weiß karierte Tischtuch war aus dem gleichen Stoff wie die Vorhänge. «Kann ich eine Tasse Tee haben, Miss Pettigrew?» fragte Polly gezwungen. «Und ein Muffin?»
«Dafür sind wir da», sagte Miss Pettigrew und huschte in den hinteren Teil ihrer Teestube, zu der Tür mit dem Vorhang.
Um nicht noch einmal in Versuchung zu geraten, hatte Polly sich mit dem Rücken zum Fenster gesetzt; als sie jedoch die Türklingel hörte, schlug ihr das Herz bis zum Hals. Hatte er vielleicht eine andere Richtung eingeschlagen, als er über die Grünanlage ging? Hatte er vielleicht –?
Nein. Es war nur Sir Miles, der gekommen war, um Miss Pettigrew an den Rand eines Nervenzusammenbruchs zu treiben. Obwohl Miles Bodenheim der Rang des ersten Opfers in den Littlebourner Morden nur von seiner Frau streitig gemacht wurde, war Polly in diesem Augenblick beinahe froh, ihn zu sehen.
Daß jemand darüber nicht froh sein könnte, kam Miles nie in den Sinn.
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