Intruder 4
Er musste aufhören, sich selbst verrückt zu machen.
Von der Gluthitze, in der sie den Tag begonnen hatten, war 92
längst nichts mehr zu spüren. Der Wind, der ihnen in die Gesichter blies, war angenehm kühl.
Nach einer halben Stunde war er nicht mehr angenehm, sondern nur noch kühl. Und nachdem sie eine weitere halbe Stunde gefahren waren, war er eindeutig unangenehm.
Schließlich hielt der vorausfahrende Stefan an, kippte seine Maschine auf den Ständer und begann in seinen Satteltaschen zu kramen.
»Was suchst du?«, spöttelte Mike. »Einen Skalp aus Pferdehaar?«
»Einen Pullover«, antwortete Stefan, ohne hochzusehen, »und meine Handschuhe.« Er machte eine Kopfbewegung nach vorne. »Seht mal dorthin. Das Weiße da, was glaubt ihr wohl, was das ist?«
Es dauerte einen Moment, bis Mike begriff. Dann riss er ungläubig die Augen auf. »Ist das ... Schnee?«
Natürlich war es Schnee! Vor ihnen schimmerte es hell zwischen den Stämmen des dichten Tannenwaldes, der die Straße säumte: zuerst nur wenige glitzernde Flecke, weiter oben aber immer mehr und mehr. Und die Gipfel, die jetzt manchmal beunruhigend hoch über ihnen im grauen Dunst auftauchten, glitzerten wie riesige Rohdiamanten. Wenn man bedachte, wie der Tag angefangen hatte, war der Anblick geradezu absurd. Aber die kalte Luft, die wie Glas in ihre Gesichter schnitt, bewies das Gegenteil. Sie waren zwar im Herzen einer höllenheißen Wüste aufgebrochen, hatten seither jedoch auch mehr als vierhundert Kilometer zurückgelegt, und sie waren den Großteil dieser Strecke bergauf gefahren, ohne es wirklich zu merken.
»Vielleicht sollten wir doch in diesem BEST WESTERN
übernachten«, sagte Mike zögernd. »Noch können wir zurück.«
»Unsinn«, antwortete Frank. Er war bereits abgestiegen und begann ebenfalls in seinem Gepäck zu wühlen. »Das schaffen wir schon. Ich denke, das Schlimmste haben wir bereits hinter 93
uns.«
»Und wie nennst du das da?«, fragte Mike mit einer Geste auf die schneebedeckten Gipfel vor ihnen.
»Der Pass wird wohl kaum über die höchsten Gipfel führen«, antwortete Frank, ohne auch nur hochzusehen. »Such dir was Warmes zum Anziehen, und dann weiter. Keine Angst - wenn du es nicht schaffst, nehmen wir dich in die Mitte und schieben dich.«
Mike fand das überhaupt nicht komisch, auch wenn er zu wissen glaubte, warum Frank diese blöde Bemerkung gemacht hatte. Trotzdem stieg er ebenfalls ab und machte sich daran, warme Sachen herauszusuchen.
Das Ergebnis war mäßig, genau wie bei Stefan; nur Frank hatte in seiner typischen Gründlichkeit extra ein zweites, dickes Paar Handschuhe, eine entsprechende Jacke und eine Thermohose in seine Gepäckrolle gestopft. In Phoenix hatten sie ihn deswegen noch aufgezogen, jetzt war Mike nicht mehr nach Lachen zumute. Schließlich hatten er und Stefan sich auf eine Wüstentour vorbereitet, nicht auf eine Nordpolexpedition.
Schmerzhaft kam ihm zu Bewusstsein, dass ihn das Reisebüro genau vor dieser Situation gewarnt hatte. Natürlich hatte er diese Bemerkung ignoriert und darauf verzichtet, sie an Frank und Stefan weiterzugeben. Schnee in Arizona und Utah?
Lächerlich.
Er zog drei T-Shirts übereinander an, ein zweites Paar Socken und eine zusätzliche Jeans, die er über seine Lederhose streifte.
Anschließend hatte er das Gefühl, sich kaum noch bewegen zu können, aber der Wind biss nicht mehr ganz so schmerzhaft durch seine Kleidung. Als sie weiterfuhren, war ihm regelrecht warm.
Allerdings nur für die ersten paar Minuten.
Die Temperaturen stürzten buchstäblich in den Keller, nachdem sie die Schneegrenze passiert hatten. Es wurde kalt, dann eisig, und als sie den Pass erreichten und es unwiderruflich zu 94
dämmern begann, wirbelten die ersten Schneeflocken durch die Luft.
Auf dem höchsten Punkt der Passstraße machten sie noch einmal Halt; an der gleichen Stelle, an der vermutlich unzähli-ge Touristen vor ihnen angehalten hatten, um den spektakulä-
ren Ausblick über die andere Seite des Gebirges und die dahinter liegende Hochebene zu genießen.
Nur dass der Anblick, der sich ihnen nun bot, nicht spektakulär war, sondern durch und durch erschreckend.
Dabei war im Grunde gar nichts zu sehen. Hundert oder zweihundert Meter vor ihnen ... hörte die Welt einfach auf.
Mike klapperte vor Kälte mit den Zähnen. Seine Fingerspit-zen hatten zu Anfang gekribbelt, mittlerweile taten sie weh, und es war jene besondere Art von Schmerz, der keinen Zweifel daran
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