Intruder 6
Soldaten retteten sich mit hastigen Sprüngen ins Wasser und schwammen ans Ufer, während sich der Käpt’n als echter Kapitän vom alten Schlag entpuppte: Er salutierte dem Piratenkapitän zu, trat hoch aufgerichtet hinter das Ruder seines Schiffes und blieb auf dem Achterdeck stehen, um mit seinem Schiff unterzugehen.
Es dauerte gut zwei oder drei Minuten, bis der Rumpf des Schiffes ganz im Wasser versunken war. Der Pool war nicht tief genug, um das Schiff ganz zu verschlingen, sodass am Schluss noch die Spitze des Mastes aus dem Wasser ragte; der Rumpf, das Achterdeck und auch das Steuer mit dem noch immer reglos dahinter stehenden Käpt’n waren jedoch vollkommen verschwunden.
»Na?«, fragte Frank. »War das eine Show?«
Mike nickte. Er wandte sich nicht zu Frank um, sondern starrte weiter ungläubig auf die Wasserfläche. Es fiel ihm schwer, sich aus der Traumwelt zu lösen, in die ihn das Spek-takel für einige Minuten entführt hatte. Natürlich war ihm klar, dass niemand ernsthaft zu Schaden gekommen war und der Kapitän sich längst in Sicherheit gebracht hatte. Vermutlich gab es dort unten einen Tunnel oder Taucher mit Sauerstoff-masken. Dennoch fühlte er sich wie erschlagen von dem Erlebten. Und war es nicht geradezu ein Symbol für vieles, was er in den letzten Tagen erlebt hatte? Wie weit durfte er - wie weit durfte irgendein Mensch - seinen Augen trauen? Was war Realität, was nur ein Traum?
»Das war wirklich toll«, sagte er nach einer Weile. »Schade, dass Stefan es nicht mitbekommen hat.«
»Es ist noch nicht ganz vorbei«, sagte Frank. »Es taucht gleich wieder auf.«
Bis dahin vergingen noch gut zwei oder drei Minuten, aber schließlich begann der Mast ebenso langsam wieder aus dem Wasser aufzusteigen, wie er darin versunken war. Und auch die Gestalt hinter dem Ruder war noch da!
Nur dass es nicht me hr ein Schauspieler in der Uniform eines englischen Marineoffiziers des siebzehnten Jahrhunderts war.
Es war ...
»Stefan!«, keuchte Frank. »Großer Gott, das ist Stefan!»
Für eine einzelne, endlose Sekunde konnte Mike nichts anderes tun als einfach nur dazusitzen und die Gestalt anzustarren, die reglos über dem fast mannshohen Ruder zusammengesun-ken war. Er konnte nicht denken. Er empfand nicht einmal wirklich Schrecken, nur ein Gefühl, das so absurd weit jenseits allen Entsetzens war, dass es kein Wort gab, um es zu beschreiben. Er saß einfach da und starrte das Schiff an, das sich langsam weiter aus dem Wasser hob, und er war nicht sicher, was schlimmer war: das, was er sah, oder der Umstand, dass Frank es offensichtlich ebenfalls sah. Nein, dies hier war offensichtlich keine seiner Halluzinationen. Dies hier war grausame Realität!
Und nicht nur er und Frank sahen es. Die Zuschauer hatten angefangen, zu applaudieren, als sich das Schiff wieder durch die Wasseroberfläche schob, aber der Applaus verebbte, und hier und da wurde ein erschrockenes Keuchen laut. Dann begann irgendwo eine Frau zu kreischen. Das Geräusch brach den Bann aus Entsetzen und Unglauben, der sich über die gesamte Menschenmenge auf der Terrasse gelegt hatte. Männer und Frauen sprangen auf, Stühle stürzten um, Glas klirrte, jemand begann, laut und absurderweise auf Französisch zu brüllen. Und endlich fiel der Bann auch von Mike ab. Es gab keinen Zweifel. Das da vorne war Stefan.
Und es gab auch keinen Zweifel daran, dass er tot war.
»Das ... das ist nicht wahr«, stammelte Mike. »Das ist nur ein Scherz.« Seine Stimme wurde schrill; hysterisch. »Das ... das habt ihr euch nur ausgedacht, um es mir heimzuzahlen!«
Selbst wenn Frank die Worte gehört hätte, wäre er vermutlich nicht in der Lage gewesen, darauf zu antworten. Eine Sekunde lang stand er noch wie gelähmt da und starrte aus weit aufge-rissenen Augen durch die Glasscheibe, dann fuhr er mit einer so abrupten Bewegung herum, dass er fast den Tisch umgewor-fen hätte, rannte im Slalom zwischen den anderen Tischen und Stühlen hindurch, bis er das Ende der Glasbarriere erreicht hatte, und sprang, ohne im Tempo innezuhalten, über das niedrige Geländer, das den Pool dort von der Terrasse trennte, um sich mit einem gewaltigen Hechtsprung ins Wasser zu werfen.
Während rings um Mike Panik ausbrach und überall längs des Pools große Scheinwerfer aufflammten, die die grausige Szene in grellweißes Licht tauchten, wirbelte auch er herum und hetzte hinter Frank her. Er prallte mit zwei, drei Leuten zusammen, riss Stühle um und rannte gegen
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