Intruder 6
aufbot, um der Bewegung Einhalt zu gebieten - vergebens.
Sein Körper gehorchte ihm nicht mehr. Die rasiermesserscharfe Schneide des Tomahawks näherte sich seiner Kehle und ritzte seine Haut. Zuerst nur wenig, oberflächlich, sodass nur einige Blutstropfen austraten und wie rot gefärbte Tränen an seinem Hals entlangliefen.
»Nein!«, wimmerte Mike. »Hör auf! Ich flehe dich an, hör auf! Er hat nichts damit zu tun!«
Tatsächlich hörten Bannermanns Hände auf, dem fremden Willen zu gehorchen. Er stand jetzt völlig erstarrt da, selbst sein Gesicht war zu einer Maske aus Schrecken und Schmerz gefroren. Der Wendigo starrte Mike einen Moment lang an, dann betastete er sein zerschnittenes Gesicht und hob die Finger vor die Augen. Der Anblick seines eigenen Blutes schien ihn zu verwirren, als wäre es etwas, das er einfach nicht verstehen konnte. In das Chaos aus Gefühlen, das Mike noch immer von der unheimlichen Kreatur empfing, mischte sich etwas Neues und noch Schlimmeres.
»Bitte tu es nicht«, flehte Mike. »Du kannst mich haben. Tu mit mir, was du willst. Ich werde mich nicht wehren, aber lass sie gehen.«
Eine einzelne, scheinbar endlose Sekunde verging, in der der Wendigo ihn nur anstarrte. Dann blickte er noch einmal stirnrunzelnd und jetzt eindeutig überrascht auf das frische Blut auf seinen Fingerspitzen herab - und machte eine flüchtige Handbewegung.
Bannermanns Hände reagierten mit einem Ruck darauf. Die Klinge des Tomahawks riss seine Kehle so weit auf, dass es schon fast einer Enthauptung gleichkam. Ohne den geringsten Laut kippte Bannermann nach hinten und brach zusammen.
»Das habe ich nicht gewollt«, flüsterte Frank. Seine Stimme war tonlos, ohne jedes Gefühl. Als Mike sich endlich vom grässlichen Anblick des Wendigo losriss und seinen Freund ansah, entdeckte er auch in dessen Augen keine Furcht, kein Entsetzen, nur diese schreckliche Leere, die vielleicht schlimmer war als alles andere. »Das habe ich nicht gewollt.«
Irgendwie gelang es Mike, die Lähmung zumindest so weit abzuschütteln, dass er einen Schritt auf den Dämon zumachen konnte. Um weiterzugehen, hätte er über Strongs Leiche steigen müssen, und dazu fehlte ihm die Kraft. Er versuchte, sie zu umgehen, doch der junge Indianer, der letzte aus Strongs Truppe, legte ihm die Hand auf die Schulter und hielt ihn zurück. Im ersten Moment glaubte Mike, dass der Mann nun seinerseits den Wendigo angreifen würde, aber dann blickte er in sein Gesicht und stellte fest, dass er sich getäuscht hatte.
Auch die Züge des Indianers waren starr vor Schreck, sein Blick erfüllt von namenloser Furcht, aber er würde nicht kämpfen.
Er wusste, wem er gegenüberstand.
Der Wendigo nahm die Hände herunter und blickte den dunkelhaarigen jungen Indianer ruhig und beinahe ohne Drohung an. Dann hob er die Rechte und machte eine flatternde, leichte Bewegung. Erneut verschwand die Wand hinter ihm und machte dem Anblick einer endlosen roten Steinwüste Platz. Statt der klimatisierten Hotelluft wehte ihnen trockener, heißer Wüstenwind in die Gesichter. Der alte Dämon sprach kein Wort. Er machte keine Bewegung, zuckte nicht mit der Wimper, sondern sah den Indianer nur an. Nach einem weiteren Augenblick setzte sich dieser langsam in Bewegung und trat auf den Wendigo und die endlose Öde hinter ihm zu. In seinen Augen erschien ein Ausdruck unendlichen Schmerzes und noch unermesslicherer Furcht. Aber so wenig wie Ba nnermann in der Lage gewesen war, seinen eigenen Händen Einhalt zu gebieten, schien der Indianer fähig, stehen zu bleiben. Langsam, ohne innezuhalten, ging er an dem Wendigo vorbei und trat über die unsichtbare Trennlinie zwischen den Welten in das andere Land der Anasazi hinein, um sich auf den nie endenden Weg zu einem unerreichbaren Horizont zu machen. Hinter ihm waberte die Dunkelheit stärker, und im nächsten Augenblick war der Anblick der sonnendurchglühten Wüste verschwunden.
»Jetzt sind wir wohl an der Reihe«, murmelte Frank. »Mein Gott, was geschieht hier nur?«
»Als ob du das nicht wüsstest, weißer Mann.«
Mike brauchte ein paar Sekunden, um zu begreifen, dass es der Wendigo gewesen war, der gesprochen hatte. Seine Stimme klang rau und dröhnend wie der Wind, der in seinem Land wehte und mit seiner unbändigen Kraft Staub, Sand und Dreck aufwirbelte.
»Es war der Neid, der deine Seele vergiftet hat«, fuhr der Wendigo fort. »Aus dem Neid wurde Missgunst. Und aus der Missgunst wurde die Quelle aller dunkler
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