Intruder 6
flüchtig kam ihm zu Bewusstsein, wie lächerlich der Anblick wirken musste, und wie bizarr angesichts der Vorwürfe, die der Wendigo gerade gegen seinen Freund erhoben hatte. Es mochte sein, dass Missgunst und verletzter Stolz Frank zu fürchterlichen Fanta-sien getrieben hatte, aber sie in die Tat umzusetzen wäre er niemals fähig gewesen - auch nicht unter dem Einfluss des Wendigo. Das, was er getan hatte, die Idee, Mike dem grausamen Spiel Strongs auszuliefern, war zwar nicht verzeihbar.
Jedenfalls nicht unter normalen Umständen. Mike war nicht im Geringsten in der Lage, die Art der Schuld zu begreifen, die Frank auf sich geladen hatte, und ohne Verstehen auf der einen Seite und Reue auf der anderen kann es keine Versöhnung geben. Doch darum ging es im Moment nicht.
Es war der Wendigo, der Mike zu vernichten trachtete, nicht Frank. Und damit blieb im Prinzip alles beim Alten, so, als hätte Strong Frank nie angesprochen und auf die fürchterliche Idee mit diesem ganz speziellen Motorradtrip gebracht; so, als wären Mike und Frank nie zuvor in eine Schlägerei geraten wie vor ein paar Jahren, als ein paar Betrunkene ihren Hund auf sie zu hetzen versucht hatten - und in der Frank Mikes Schutzengel gewesen war, der ihm das Gefühl vermittelt hatte, sich in solchen Situationen stets und ohne jeden Zweifel auf seine Stärke und seine ruhige Selbstsicherheit verlassen zu können.
Nun war er es, der sich schützend vor seinem mehr als einen Kopf größeren und viel breitschultrigeren Freund aufbaute und der ohne auch nur darüber nachdenken zu müssen, vollkommen bereit war, sein Leben zu opfern, um das des anderen zu retten, auch wenn dieser innerlich von noch so viel Neidgefü hlen zerfressen sein mochte.
Der Wendigo blinzelte. Erneut änderte sich etwas in dem lautlosen Wispern und Raunen tief in Mikes Gedanken. Er spürte Verwirrung, Überraschung und ... noch etwas. Etwas, das er nicht wirklich einordnen konnte, das ihn aber mit einer jähen, verzweifelten Hoffnung erfüllte, als hätte ein Teil von ihm bereits begriffen, was er da ahnte.
»Du wirst ihm nichts tun«, sagte er. Seine Stimme zitterte und war schrill wie die eines hysterischen alten Mannes. Aber es lag auch eine Entschlossenheit darin, die ihn selbst überraschte und die der Wendigo ebenso deutlich spüren musste wie er, wenn nicht deutlicher. Die Kreatur war verwirrt. Sie hob die Hand, tastete noch einmal über ihr verheertes Gesicht und sah dann wieder Mike an. Plötzlich begannen die Wut, der Zorn und der Hass, den Mike verspürte, deutlich an Kraft zu verlieren.
War das die Lösung?, dachte er. Vielleicht. »Ich lasse nicht zu, dass du ihm etwas tust«, sagte er, nun tatsächlich mit hörbar entschlossenerer, fester Stimme. »Du hast bereits Stefan umgebracht, und du kannst mich umbringen, aber ihn wirst du nicht bekommen!«
Frank schwieg. Was er hörte, musste ihm angesichts des tödlichen Wütens des Wendigo und der fürchterlichen Vorwür-fe gegen seine Person vollkommen lächerlich vorkommen.
Aber vielleicht spürte er etwas von dem lautlosen Kampf, der zwischen Mike und dem Wendigo stattfand, und vielleicht ahnte er, dass Mike - möglicherweise - die einzige Waffe gefunden hatte, die die Bestie schlagen konnte: Freundschaft.
Eine Freundschaft, die auch tiefe Verletzungen aushält.
»Glaubst du wirklich, du könntest mir trotzen, weißer Mann?«, dröhnte der Wendigo.
»Nein«, gab Mike zu. »Das kann ich nicht. Du kannst mich vernichten, und ich weiß das. Tu es.«
»So leicht ist es nicht, Eindringling«, antwortete der Wendigo. Er klang jetzt unsicher. Er war zorniger denn je, aber die verheerende Kraft, die Mike bisher stets in seinen Gedanken gespürt hatte, war nicht mehr da. Da war nur noch Wut, nicht mehr die Macht, ganze Welten zu zerstören. Vielleicht war es das. Vielleicht waren echte Freundschaft und Liebe die einzigen Empfindungen, die der alles verschlingenden Wut des Weltenzerstörers Einhalt gebieten konnten.
Der Wendigo antwortete nicht mehr. Er kam langsam auf Mike und Frank zu. Als er Bannermanns Leichnam erreicht hatte, bückte er sich und hob den Tomahawk auf.
»Töte mich«, sagte Mike herausfordernd. »Nimm deine Axt und erschlag mich, oder verschwinde und lass mich endlich in Ruhe. Ich habe keine Angst mehr vor dir.«
Und diesmal - zum allerersten Mal - traf es wirklich zu! Mike verspürte keine Angst mehr, nur die wilde Entschlossenheit eines Menschen, der mit dem Leben abgeschlossen hat und weiß,
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