Intrusion
die Kunstwerke genau darstellen sollten, war im Dunkel jedoch nicht zu erkennen. Auf einem Schild neben der Tür stand: »Weltenmacher-Kirche. Days Past. Bühne.«
Er drückte die Türklinke nach unten. Verschlossen. Seine Schritte knirschten über den Kies im Hof. Spitze Steine bohrten sich in seine Fußsohlen, als er nach einem Fenster suchte, das sich aufhebeln ließe. Die leisen Geräusche der Nacht verstummten, und in den Baumwipfeln herrschte eine angespannte Stille, als hielte jemand den Atem an. Er spürte, dass ihn da draußen etwas beobachtete, aber das machte ihm nichts aus. Er winkte den Bäumen ein Hallo zu und flüsterte: »Mir könnt ihr keine Angst einjagen. Ich bin tot.«
Etwas tauchte zwischen den Stämmen auf. Er beobachtete die Bewegung aus dem Augenwinkel, ohne den Kopf zu drehen. Ein Aufblitzen wie von einer Kamera, ein Funke, der immer heller wurde und in sein Blickfeld wanderte. Eine Frau trat unter den Bäumen hervor und kam auf ihn zu. Lichtstrahlen wiesen ihr den Weg, obwohl sie keine Laterne trug. Ein Geist, dachte er. Seine Neugier war geweckt. Streng genommen war er wohl eine Art Geist. Sie hatte glattes Haar, dessen Farbe schwer auszumachen war. Es floss ihr über die Schultern bis weit hinab auf den Rücken. Dann sah er, dass die Farbe mit jeder ihrer Bewegungen wechselte – porzellanweiß, flammend rot, schwarz, dann golden. Sie trug ein Kleid mit einem Streifenmuster in kühnen Farben, die durch irgendwelche magischen Einflüsse in einem steten Wechsel schillerten und ihre großen Augen beinahe schwarz erscheinen ließen. Ansonsten war sie so makellos schön, dass er es kaum fassen konnte, ein derart perfektes Geschöpf leibhaftig vor sich zu sehen.
Mit jedem Schritt, den sie auf ihn zukam, schien sich ihre Gestalt zu verändern: mal zart und feingliedrig, mal üppig und sinnlich und dann wieder elastisch und kraftvoll wie eine Stahlfeder. Jede Form war irgendwie vollkommen, jede Variante so gefällig wie die vorherige. Nebel legte sich über Adens Gedanken, warm und angenehm. Er kam sich plötzlich so unbeholfen vor, als wäre er im Körper eines Affen gefangen, ein dankbares Tier, das unterwürfig seine gütige Herrin begrüßte. Nicht einmal sprechen konnte er.
Nun hatte sie ihn fast erreicht. Sie musterte ihn genau, als versuchte sie abzuwägen, ob eine Gefahr von ihm ausging. Ihre Miene war ernst und verriet Wachsamkeit, aber ihre Stimme klang wie süße Musik. »Stell dir vor«, sagte sie, »alle sind verschwunden. Es gibt nur noch zwei Menschen auf dieser sterbenden Welt. Uns beide. Niemanden sonst. Dich und mich. Der Wind spielt in meinen Haaren, während das Ende heranrückt. In ihren letzten Sekunden gehört die Welt uns allein. Gefällt dir der Gedanke? Pass auf, der Untergang rauscht heran wie eine Woge. Du und ich, wir beobachten ihn von einer hohen Aussichtsplattform draußen auf dem Meer. Wir sehen zu, wie das Vergessen alles verschlingt.« Sie lachte. »Sie stirbt. Sie stirbt schnell. Die Welt stöhnt in Todespein. Kannst du sie hören?«
Er musste schlucken, ehe er antworten konnte. »Sprich weiter! Sag noch etwas! Bitte!«
Sie lachte. Diesmal klang ihr Lachen scharf wie ein Dolch, der einen schönen Traum zerfetzte. »Schon gehört er mir«, sagte sie. »Und ich dachte anfangs, er sei anders! Ein paar schöne Worte, und er würde sich das Herz aus der Brust schneiden, wenn ich es verlangte. Dein Name?«
»Aden.«
»Sprich lauter. Du klingst, als hätte deine Stimme in Panik die Flucht ergriffen.«
»Aden. Aden Keenan.«
Sie schüttelte den Kopf. Die Bewegung verschob den Blickwinkel auf ihr Gesicht. Die Zeit verlangsamte sich, und eine dumpfe Benommenheit ergriff von ihm Besitz. Mit jeder neuen Perspektive zeigte sich eine andere Vollkommenheit. Einen Moment lang besaß sie eine Unschuld, die in ihm den Instinkt weckte, etwas Zerbrechliches zu beschützen. Gleich darauf strahlte sie eine düstere, beinahe raubtierhafte Schönheit aus, den prickelnden Reiz der Gefahr. Dann wieder strotzte sie vor Gesundheit und Temperament.
»Ich glaube, es ist zu hell für dich«, sagte sie. »Du machst keinen Spaß, wenn es dir die Sprache verschlägt.« Der Engelsglanz, der sie wie eine Aura umgab, schwächte sich um mehrere Stufen ab. Die schillernden Streifen ihres Gewands, die ihre Kurven betonten, beendeten ihr Licht-und-Farben-Spiel. Sie veränderte sich nicht mehr, als hätte sie endlich die ideale Form gefunden, die für seine Augen angenehmste Gestalt. Ihre
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