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Invasion der Barbaren: Die Entstehung Europas im ersten Jahrtausend nach Christus (German Edition)

Invasion der Barbaren: Die Entstehung Europas im ersten Jahrtausend nach Christus (German Edition)

Titel: Invasion der Barbaren: Die Entstehung Europas im ersten Jahrtausend nach Christus (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Heather
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wiederholen. Weniger offensichtlich ist, dass diese Bereitschaft auch an die nächste Generation weitergegeben wird. Die Kinder und Enkel von Migranten ziehen häufiger aus ihrer Heimat weg als der Durchschnitt der Bevölkerung. Ist Mobilität Bestandteil der Familiengeschichte, so liegt auch später eine größere Bereitschaft vor, einen Aufbruch als Problemlösungsstrategie und Chance zu begreifen. Wer die Bereitschaft zur Migration verinnerlicht hat, aktiviert diese Möglichkeit bereits bei einem geringeren Anreiz als andere.
    Dies lässt sich im 1. Jahrtausend auf zwei Ebenen beobachten. Erstens: Mindestens zwei größere Migrationsströme des 2. und 3. Jahrhunderts, die der Wielbark- und Przeworsk-Germanen, sowie die der frühen Slawen 300 Jahre später umfassten Gruppen, deren Ackerbautechniken die Böden bereits nach ein, zwei Generationen auslaugten. Für diese Menschen war es ganz selbstverständlich, in regelmäßigen Abständen weiterzuziehen. Es gibt guten Grund zu der Annahme, dass sich ihre anfangs eher zufällig, nach dem »wave-of-advance«-Modell verlaufende Expansion allmählich in einen stärker zielgerichteten Migrationsstrom verwandelte, der sich aus den Informationen speiste, die den Zurückgebliebenen über die Zielorte zukamen. Zweitens: Einige Gruppen des 1. Jahrtausends bildeten eine deutliche Neigung zur Umsiedlung in weit entfernte Gebiete aus. Die gotischen Terwingen des 4. Jahrhunderts etwa entschieden sich im Jahr 376 mehrheitlich dafür, im Römischen Reich Asyl zu suchen. Die im kollektiven Gedächtnis bewahrte Erinnerung an nicht allzu lang zurückliegende Migrationen wird ihnen diese Entscheidung erleichtert haben. Erst um 300 hatten diese Goten Territorien in der Walachei und in Moldawien zwischen dem Unterlauf der Donau und dem Dnjestr besetzt; eine Generation später, in den 330er Jahren, versuchten sie, als geschlossene Gruppe an die mittlere Donau zu ziehen. Die Kinder jener, die nach Moldawien und in die Walachei gezogen waren, machten sich also in den 330er Jahren erneut auf den Weg, deren Kinder und die Enkel der ersten Generation wiederum entschieden sich im Jahr 376, auf dem Territorium des Römischen Reiches ein neues Leben zu beginnen. Ähnliches lässt sich bei vielen anderen Gruppen beobachten, die in den Strudel um den Aufstieg und Fall des Hunnenreichs gerieten – sowohl für jene, die während der Krisenjahre 376 – 380 und 405 – 408 ins Römische Reich flüchteten, wie auch für jene, die, von den Hunnen angelockt oder genötigt, an den Mittellauf der Donau kamen und nach Attilas Tod von dort wieder wegzogen. Ebenso wurde die Bereitschaft vieler Skandinavier, im späten 9. Jahrhundert nach Island und Grönland zu ziehen, durch die Tatsache erleichtert, dass sie die direkten Nachfahren jener Wikinger waren, die zuvor Schottland und die Britischen Inseln besiedelt hatten. Das Beispiel der Goten und Slawen zeigt, wie Wanderungszüge, die zunächst aus einer lokalen Mobilitätstradition heraus entstanden, breitere Bewegungen auslösen können. Auch unter den Migranten, die sich im 19. Jahrhundert bereits innerhalb Europas eine neue Heimat gesucht hatten, waren viele, die sich dann dem großen Exodus nach Nordamerika anschlossen.
    Neben der psychischen Belastung der Migration ging natürlich vor allem die Frage der Finanzierung in die Kalkulation der Migranten ein. Die Migration des 1. Jahrtausends erfolgte weitgehend zu Fuß und im Wagentreck. Die Transportkosten bestanden eigentlich nur aus Zugtieren und neuen Wagenrädern, so dass die Teilnahme fast allen offen stand. Die indirekten Kosten allerdings waren beträchtlich, vor allem für Nahrungsmittel, da die landwirtschaftliche Tätigkeit in der Wanderungsphase ruhte. Vor einer Migration musste also für Vorräte gesorgt werden. Daher war der Herbst die bevorzugte Jahreszeit für den Aufbruch: Die Ernte war eingefahren, und die Zugochsen und die übrigen Tiere konnten unterwegs noch Gras finden. So begannen Alarich und seine Goten ihre Italienzüge der Jahre 401 und 408 jeweils im Herbst, und auch Radagaisus’ Goten machten sich 405 im Herbst auf den Weg. Die Vandalen, Alanen und Sueben, die Ende 406 den Rhein überquerten, brachen aller Wahrscheinlichkeit nach im Herbst desselben Jahres mit ihrem Treck von der mittleren Donau auf. 6
    In der Regel besitzen wir über diesen Anfangspunkt hinaus keine Informationen darüber, welche Kosten eine Migration verursachte, doch ab und zu erfahren wir etwas über die

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