Invasion der Barbaren: Die Entstehung Europas im ersten Jahrtausend nach Christus (German Edition)
politische Einheit, die viel stabiler war als das lockere Bündnis 23 Jahre zuvor. Jüngeren Studien zufolge entsprachen diese Migrationsprozesse ebenso sehr dem Schneeball- wie dem Billardkugel-Modell.
Gegen die alte Invasionshypothese spricht auch die Tatsache, dass die Großgruppen bei genauerer Betrachtung nicht nur nach Alter und Geschlecht, sondern auch hinsichtlich der sozialen Rangunterschiede gemischt waren. In der Hochphase des Nationalismus hing man der Vorstellung an, während der germanischen »Völkerwanderung« hätten große Verbände von freien, gleichrangigen Kriegern zusammen mit ihren Familien als Invasoren fremde Territorien erobert. Es ist jedoch erwiesen, dass es in den größeren Gruppen zwei Kategorien von Kriegern mit unterschiedlichem Rang gab. Nur die höhere Kriegerklasse zählte zu den »Freien«, und da sie per definitionem der Elite angehörten, stellten sie vermutlich eine Minderheit dar. Die Entscheidung, sich auf Wanderung zu begeben oder nicht, wurde demnach nur von einer Minderheit der Beteiligten gefällt. Die Krieger niedrigeren Rangs sowie die Sklaven hatten darauf kaum Einfluss. Diese Statusunterschiede zu erkennen und zu akzeptieren bedeutet auch, dass der Freiheit, Gruppenidentitäten zu wählen oder abzulegen, enge Grenzen gesetzt waren. Daher sollten wir auch vorsichtig sein, was die Stärke des Schneeballeffekts betrifft. Ein Großteil der Bevölkerung des barbarischen Europa hatte keine Möglichkeit, sein Schicksal mitzubestimmen, da die Entscheidung über eine Beteiligung an der Migration einer großen Gruppe allein in den Händen der Elite lag. 5
Der letzte Einwand gegen das alte Modell der Invasionshypothese richtet sich gegen die Annahme, zahlenmäßig starke Eindringlinge hätten die ansässige Bevölkerung verdrängt. Es gibt verschiedene gut belegte Beispiele für Masseninvasionen im 1. Jahrtausend, aber aus keiner Quelle geht hervor, dass ethnische Säuberungen im großen Stil stattgefunden hätten. Die autochthone Bevölkerung stand oft vor der Wahl, sich zu unterwerfen oder ihr angestammtes Territorium zu verlassen, was insbesondere den alteingesessenen Eliten schwergefallen sein dürfte, da sie durch die Ankunft der neuen Herren am meisten zu verlieren hatten. Aber es gibt keinen einzigen hinreichend dokumentierten Fall, in dem die indigene Bevölkerung einer Region komplett vertrieben worden oder geflohen wäre. Im Übrigen stellte die alteingesessene Bevölkerung ein Reservoir an landwirtschaftlichen Arbeitskräften dar, und viele Einwanderergruppen hatten ohnehin Klassen niedrigen sozialen Ranges, in die sich die unterworfenen Einheimischen leicht einfügen ließen.
Diese Einwände sind wichtig, aber sie stellen nur eine Modifizierung und nicht eine Widerlegung der Grundannahme dar, dass es im 1. Jahrtausend auch große, gemischte und organisierte Migrantengruppen gab. Dagegen gehören die nationalistischen Vorstellungen von »Völkern«, die riesige Territorien an sich rissen und alle Einheimischen vertrieben, in den Mülleimer der Geschichtswissenschaft. Die in unseren Quellen dokumentierten Gruppen waren politische Gebilde, die größer werden, sich aber auch spalten konnten, deren Mitglieder sozialen Klassen unterschiedlichen Ranges angehörten und sich in entsprechend komplexer Weise in die neue, aber bereits besiedelte Umgebung einfügten. Das geht aus den schriftlichen Zeugnissen hervor und wird durch die archäologischen Funde nicht widerlegt. Doch lässt sich diese Annahme auch angesichts der Tatsache aufrechterhalten, dass in modernen Migrationsmustern solche Phänomene nicht festzustellen sind? Die Antwort darauf ist meiner Ansicht nach von einer noch viel weiter reichenden Frage abhängig: Warum nahmen die Migrationsbewegungen ausgerechnet diese und keine anderen Formen an? Die vergleichende Migrationsforschung liefert dazu aufschlussreiche Erkenntnisse.
Wie Migration funktioniert
Es gibt viele Parallelen zwischen der Funktionsweise der Migration im 1. Jahrtausend und der besser dokumentierten Migration in jüngerer und jüngster Zeit. Zu den wichtigsten gehört die aktive Informationsbeschaffung bei der Wahl des Zieles, die im 1. Jahrtausend so entscheidend war wie heute. Die germanische Expansion ans Schwarze Meer im 3. Jahrhundert profitierte von Informationen über diese Region, die sich durch den Handel entlang der Bernsteinstraße angesammelt hatten. Die slawischen Gruppen lernten den römischen Balkan zunächst als Plünderer
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