Invasion der Barbaren: Die Entstehung Europas im ersten Jahrtausend nach Christus (German Edition)
logistischen Probleme. Vor allem lange Wanderungszüge brachten die Gruppen in wirtschaftliche Bedrängnis. So konnte Flavius Constantius die Goten Alarichs – inzwischen von Athaulf und Vallia geführt – 414/415 dadurch gefügig machen, dass er sie aushungerte. Zu diesem Zeitpunkt hatten sie schon sechs oder sieben Jahre lang keine Felder mehr bestellt. Im späteren 5. Jahrhundert geben uns die Quellen auch Einblick in die Strategien, mit denen der Amalerfürst Theoderich nach dem Zusammenbruch des Hunnenreichs solche logistischen Probleme löste. Seine Goten führten in den 470er Jahren bei ihrem Migrationszug quer durch den Balkan ganze Wagenladungen Saatgetreide mit sich, und ein wichtiger Punkt seiner Verhandlungen mit den Römern war stets die Forderung nach Ackerland. Unterwegs nahm seine Gruppe Handelsbeziehungen zu den Einheimischen auf und raubte sie nicht einfach aus. Die Goten ließen also die ansässige Bevölkerung ungestört ihre Felder bestellen und einen Überschuss erwirtschaften, von dem sie selbst einen gewissen Prozentsatz abzuschöpfen verstanden. Hätten sich Theoderichs Leute dagegen aufs Plündern verlegt, dann hätten sie sich nur einmal den Bauch füllen können.
Weit größere logistische Probleme hatten Migrantengruppen zu bewältigen, die den Seeweg wählten. Die hohen Kosten einer Schiffsreise begrenzten den Kreis der Teilnehmer von vornherein. Die Wikinger sind hier das am besten dokumentierte Beispiel für das 1. Jahrtausend. Schiffe waren eine ausgesprochen teure Angelegenheit, und selbst reine Frachtschiffe konnten nur eine begrenzte Zahl von Menschen und Waren transportieren. Wer nicht so viel Geld hatte, sich aber trotzdem an den Raubzügen beteiligen wollte, konnte sich nur mit anderen zusammentun und ein Schiff kaufen oder mieten oder sich einem Führer von höherem Status anschließen. Logistische Probleme wirkten sich noch stärker aus, sobald die Siedlungsphase begann und man Arbeitskräfte mit ganz speziellen Fertigkeiten und eine Vielzahl sperriger Ackergeräte benötigte. Allein die hohen Kosten für den Schiffstransport machen Stentons These einer groß angelegten Ansiedlung skandinavischer Bauern im Danelag wenig plausibel. Wer hätte dafür bezahlen wollen, wo man doch vor Ort genügend unterworfene Angelsachsen als Arbeitskräfte zur Verfügung hatte? Auch bei der Besiedlung Islands unter Führung höherrangiger Persönlichkeiten, die für die hohen Transportkosten aufkamen, spielten logistische Fragen eine wichtige Rolle. Die spezielle Logistik des Seetransports hat wahrscheinlich auch dazu geführt, dass im Vergleich zu Migrationszügen über Land die Zahl der teilnehmenden skandinavischen Frauen beschränkt blieb. DNA-Untersuchungen bei der heutigen Bevölkerung haben ergeben, dass nur ein Drittel der nach Island eingewanderten Frauen überhaupt aus Skandinavien stammte, die übrigen wurden von den näher gelegenen Britischen Inseln geholt. Dies könnte man so deuten, dass es nur für eine Minderheit der Krieger erschwinglich war, ihre Frauen mitzunehmen. Wenn man aber bedenkt, dass es sich um polygam lebende Heiden handelte, so könnte es auch sein, dass die Frauen gegenüber den Männern von Anfang an in der Überzahl waren, weil jeder skandinavische Mann nicht nur eine Frau aus der Heimat mitbrachte, sondern auf Zwischenstationen in England oder Irland weitere Frauen mitnahm.
So beschränkt unsere Kenntnisse über die Wikingerzeit sind, über die anderen großen Migrationen, die im 1. Jahrtausend übers Meer führten – die Fahrten der Angelsachsen über die Nordsee und die Expedition der Vandalen und Alanen über die Straße von Gibraltar – wissen wir noch viel weniger. Die logistischen Schwierigkeiten müssen ähnlich groß gewesen sein. Die Vandalen und Alanen waren vermutlich in der Lage, sich in gewissem Umfang mit Gewalt Transportmöglichkeiten zu verschaffen, aber den größten Teil der Kosten werden sie selbst aufgebracht haben. Und mit gutem Grund darf man annehmen, dass sie deshalb Marokko als erste Station auf afrikanischem Boden wählten, weil sie nur eine begrenzte Anzahl von Menschen pro Überfahrt transportieren konnten. Marokko lag noch in beträchtlicher Entfernung vom gut verteidigten römischen Nordafrika, ihrem eigentlichen Ziel. Die durch die Transportlogistik bedingte Unmöglichkeit, viele Menschen auf einmal übers Meer zu schaffen, war wahrscheinlich einer der Gründe dafür, warum sich die Migration der Angelsachsen ins südliche
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