Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Invasion der Barbaren: Die Entstehung Europas im ersten Jahrtausend nach Christus (German Edition)

Invasion der Barbaren: Die Entstehung Europas im ersten Jahrtausend nach Christus (German Edition)

Titel: Invasion der Barbaren: Die Entstehung Europas im ersten Jahrtausend nach Christus (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Heather
Vom Netzwerk:
Britannien so lange hinzog.
    Trotz begrenzter Daten können also vergleichende Untersuchungen einiges Licht ins Dunkel der Migration im 1. Jahrtausend bringen. Dennoch bleiben wichtige Fragen offen, insbesondere: Können wir den Quellen glauben, die berichten, dass es im 1. Jahrtausend große organisierte Migrationszüge mit Männern, Frauen und Kindern gab? Und wenn ja, wie erklären wir dann dieses Phänomen im Kontext jener Zeit und angesichts der Tatsache, dass es sich in neueren und besser dokumentierten Epochen nicht wiederholt hat? Auch bei der Beantwortung dieser Fragen können uns Beispiele von Migrationen aus jüngerer Zeit weiterhelfen. Eine wirklich befriedigende Erklärung erhalten wir jedoch nur, wenn wir die Migrationsmuster des 1. Jahrtausends vor dem Hintergrund der viel tiefergreifenden Veränderungen betrachten, die sich zur selben Zeit im barbarischen Europa abspielten.

    MIGRATION UND ENTWICKLUNG

    Vergleichende Untersuchungen liefern zwei Orientierungspunkte zum Verständnis der Ursachen von Migrationsströmen. Erstens kann man davon ausgehen, dass ein größeres Wohlstandsgefälle zwischen zwei benachbarten Regionen fast immer einen Migrationsstrom von der weniger entwickelten Region in die reichere auslöst. Was »benachbart« meint, kann allerdings von Region zu Region variieren und davon abhängen, welche Transportmittel zur Verfügung stehen. Möglich ist auch, dass in einer Situation, die eigentlich zu einer »natürlichen« Wanderungsbewegung führen müsste, die Migration durch die politischen Strukturen oder durch Informationsmangel gehemmt wird. Wenn alles glatt geht, bewirkt ein Entwicklungsgefälle zusammen mit der den Homo sapiens auszeichnenden Neigung zum Ortswechsel als Strategie der Maximierung einen Migrationsstrom. Der zweite Punkt ist nicht weniger entscheidend. In den meisten Fällen stellt die Motivation eines einzelnen Migranten eine komplexe Mischung aus Freiwilligkeit und Zwang, aus ökonomischen und politischen Motiven dar. Normalerweise liegt eine Kombination aller vier Faktoren vor. Es gibt allerdings Ausnahmen, insbesondere dann, wenn die Flüchtlinge unmittelbar vom Tod bedroht sind. Migration muss also stets vor dem Hintergrund der bestehenden wirtschaftlichen und politischen Verhältnisse betrachtet werden. Unter diesem Blickwinkel lassen sich auch befriedigende Erklärungen für die allgemeine geographische »Form« der Migration im 1. Jahrtausend und die scheinbar merkwürdige Natur der typischen Migrationseinheiten finden.

    Migration im römisch geprägten Europa
    Die wirtschaftlich und politisch am höchsten entwickelte Region Europas war zu Beginn des 1. Jahrtausends der von den Römern beherrschte Mittelmeerraum, zu dem damals im Süden und Westen weitläufige Gebiete hinzugekommen waren, in denen die Latène-Kultur herrschte. Das Europa der Latène-Zeit zeichnete sich durch eine entwickelte Agrarwirtschaft aus, deren Überschüsse eine relativ hohe Bevölkerungsdichte ermöglichten. Auch in anderen Wirtschaftszweigen herrschten rege Produktion und Warenaustausch. Dass die Römer bei ihren Eroberungen Richtung Norden nicht über die Gebiete der Latène-Populationen hinaus vordrangen, hat seinen Grund: Jenseits dieser Zone spielte der zu erwartende Gewinn die Kosten nicht mehr ein. Dort lagen die Gebiete der post-Jastorf-Kultur, in denen hauptsächlich Germanisch gesprochen wurde. Hier gab es unterschiedliche ökonomische Verhältnisse, da Teile der dortigen Bevölkerung schon seit längerer Zeit in engerem Kontakt mit ihren Latène-Nachbarn standen. Die politischen Einheiten waren hier aber in der Regel kleiner als im Europa der Latène-Zeit vor dessen Eingliederung ins Römische Reich, und die landwirtschaftlichen Erträge geringer. Entsprechend niedrig war die Bevölkerungsdichte, und für nichtagrarische Produktion und Handel sowie für eine sozial ausdifferenzierte Gesellschaft (zumindest insoweit sich eine solche in der materiellen Kultur niederschlägt) fehlen jegliche Hinweise. Jenseits der Jastorf-Kultur waren die nördlichen und östlichen Ausläufer Europas dort, wo es die Umweltbedingungen ermöglichten, noch von eisenzeitlichen Bauern bewohnt, deren Produktivität noch geringer, deren Siedlungen noch kleiner und kurzlebiger waren und die nur über eine sehr schlichte materielle Kultur verfügten.
    Wir haben also ein deutlich ausgeprägtes »Europa der drei Geschwindigkeiten« (siehe Karte 1). Orientiert man sich an Migrationsstudien, würde man

Weitere Kostenlose Bücher