Invasion der Barbaren: Die Entstehung Europas im ersten Jahrtausend nach Christus (German Edition)
blindwütig losschlagenden Barbaren, so dass selbst ein fränkischer Kommentator hinter ihrer Brutalität eine klar umrissene und schlüssige Absicht erkennen konnte. Sie wollten ihren Teil der Grenze ihren Vorstellungen entsprechend verwaltet wissen. Archäologische Funde verdeutlichen, was damit gemeint sein könnte. Ende des 1. Jahrtausends war Mähren das erste slawische Reich von ansehnlicher Größe und Stabilität, und seine materiellen Hinterlassenschaften sind beeindruckend. In der einstigen Hauptstadt Mikulcˇice entdeckte man bei Ausgrabungen massive steinerne Umfassungsmauern und die Überreste einer eindrucksvollen Kathedrale. Mit ihrer Grundfläche von 400 Quadratmetern übertraf sie alles, was zu dieser Zeit anderswo gebaut wurde, selbst in den Regionen Europas, die vermutlich damals technisch fortschrittlicher waren. 1 Betrachtet man das 1. Jahrtausend als Ganzes, ist all dies ungeheuer faszinierend. Denn noch zur Zeitenwende dominierten in Mähren germanischsprachige Gruppen, die meist in kleinen Stammesfürstentümern organisiert waren und nie etwas Bedeutenderes errichteten als Holzhütten mittlerer Größe.
Der Vorfall an der mährischen Grenze Ende des 9. Jahrhunderts illustriert somit das Problem, um das es in diesem Buch geht: die grundlegende Transformation des barbarischen Europa im 1. nachchristlichen Jahrtausend. »Barbarisch« wird hier und im Folgenden in einem sehr spezifischen Sinne verwendet, der nur einen Teil der Bedeutung des griechischen barbaros umfasst. Denn für die Griechen und später auch für die Römer war »barbarisch« meist gleichbedeutend mit »minderwertig«, und zwar in sämtlichen Lebensbereichen, von der Moral bis zu den Tischsitten. »Barbarisch« bedeutete das Entgegengesetzte, das »Andere«, das Gegenbild zum zivilisierten, im Römischen Reich geeinten Mittelmeerraum. Ich verwende den Begriff jedoch nur in einem engeren, von moralischen Konnotationen freien Sinn: das barbarische Europa als die nichtrömische Welt des Ostens und des Nordens. Denn trotz der erstaunlichen Kultiviertheit, die der Mittelmeerraum in allen Bereichen von der Philosophie bis zur Technik entwickelt hatte, war dies auch eine Welt, die nichts dabei fand, rein zur Unterhaltung Menschen von wilden Tieren zerfleischen zu lassen. Daher fiele es mir ohnehin schwer, das römische Europa mit dem nichtrömischen anhand moralischer Kriterien auch nur ansatzweise zu vergleichen.
Die europäische Landschaft bot zur Zeit von Christi Geburt ein Bild extremer Gegensätze. Im Mittelmeerraum, unter der Herrschaft des Römischen Reiches erst kurz zuvor geeint, war eine politisch, wirtschaftlich und kulturell hochentwickelte Zivilisation entstanden – mit Philosophie, Bankenwesen, Berufsarmeen, Literatur, eindrucksvollen Bauwerken und einem System der Müllentsorgung. Abgesehen von kleineren Gebieten westlich des Rheins und südlich der Donau, wo man allmählich anfing, einen mediterranen Lebensstil zu entwickeln, war das übrige Europa von bäuerlichen Bevölkerungen bewohnt, die Subsistenzwirtschaft betrieben und kleine politische Einheiten bildeten. Ein Großteil dieses Europa wurde von germanischsprachigen Gruppen beherrscht, die zwar auch Werkzeuge und Waffen aus Eisen besaßen, das meiste aber aus Holz fertigten, über so gut wie keine Schriftkultur verfügten und nicht in Stein bauten. Je weiter man nach Osten kam, desto primitiver wurde alles: noch weniger Eisenwerkzeuge, eine noch geringere landwirtschaftliche Produktivität und eine noch geringere Bevölkerungsdichte. Die Römer im Mittelmeerraum waren die beherrschende Macht des westlichen Eurasien, die das unentwickelte Hinterland im Norden unter ihrer Kontrolle hatten.
Tausend Jahre später hatte sich diese Welt grundlegend verändert. In einem Großteil des barbarischen Europa dominierten jetzt Slawisch sprechende anstelle von Germanisch sprechenden Menschen, und in anderen Gebieten hatten germanischsprachige Gruppen die Römer und Kelten verdrängt. Aber auch die mediterrane Vorherrschaft war gebrochen. Im einstigen nördlichen Hinterland waren größere und stabilere politische Gemeinwesen entstanden, wie das Beispiel der Mähren zeigt. Doch nicht nur politisch, auch kulturell hatte der Mittelmeerraum seine Vorherrschaft eingebüßt. Bis zum Jahr 1000 hatte sich viel von der mediterranen Kultur – nicht zuletzt das Christentum, die Schriftkultur und die Steinarchitektur – nach Norden und Osten ausgebreitet, was zu einer größeren
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