Invasion der Barbaren: Die Entstehung Europas im ersten Jahrtausend nach Christus (German Edition)
Situationen zu einem undifferenzierten Gemenge oder sind nur eingeschränkt anwendbar und damit weitgehend nutzlos – zumindest was das 1. europäische Jahrtausend betrifft. So passt das Modell des Eliteaustauschs nicht auf die normannische Eroberung, weil sich die eindringende Elite mühelos in die bestehenden sozioökonomischen Strukturen einfügte und sie intakt ließ. Entsprechend gering waren die Folgen für die Gesamtbevölkerung, wenngleich nicht so gering, wie jene glauben, die die Bedeutung von Migrationen überhaupt herunterzuspielen versuchen. 2 Aber ein Eliteaustausch dieser Art ist nur dann möglich, wenn die neue Elite etwa genauso groß ist wie die alteingesessene. Das aber war in der Menschheitsgeschichte vermutlich nur selten der Fall.
Das 1. Jahrtausend kennt mehrere Beispiele, bei denen die eindringende Elite, obwohl eine – oft nur kleine – Minderheit immer noch zu groß war, als dass alle ihre Angehörigen bei der Neuverteilung des verfügbaren Grundbesitzes zum Zuge kommen konnten. In einem solchen Fall mussten die bestehenden Ländereien zerstückelt und die Arbeitskräfte umverteilt werden, was nicht nur eine Verschiebung des Verhältnisses zwischen Elite und Nicht-Elite zur Folge hatte, sondern auch oft einen erheblichen kulturellen und sprachlichen Wandel. Denn die alteingesessene Bevölkerung kam in engen Kontakt mit der neuen Elite, die zahlenmäßig sehr viel größer war als die alte, etwa im angelsächsischen England und im fränkischen Gallien nördlich von Paris ab dem 5. Jahrhundert oder – in vermutlich geringerem Maß – im Danelag nach 870.
Wiederum anders verhielt es sich mit dem nur teilweisen Austausch der Elite in den mediterranen Regionen des ehemals römischen Westens im 5. und 6. Jahrhundert. Auch hier gab es in gewissem Maß wirtschaftliche Umstrukturierungen zugunsten der Eindringlinge – Goten, Vandalen, Burgunder und andere –, aber beträchtliche Teile der alten landbesitzenden römischen Eliten blieben davon unberührt. Langfristig gesehen waren es hier die Einwanderer, die Mühe hatten, ihre Kultur und Sprache zu bewahren. Das heißt freilich nicht, dass diese Form der begrenzten Migration für die betroffenen Gebiete folgenlos blieb. Zunächst übernahm die eindringende Elite das politische Ruder, was einen weitreichenden strukturellen Wandel einleitete. Der mittel- bis langfristige Verzicht auf die zentrale Besteuerung der Landwirtschaft und die nachfolgende Schwächung der staatlichen Strukturen im nachrömischen Westen lässt sich noch am besten mit der Militarisierung der Elite erklären, die nach dem Aufbau neuer Strukturen durch die eindringenden neuen Eliten erfolgte.
Das »wave of advance«-Modell bedarf gleichfalls einer gründlichen Überholung. Sein Hauptmanko ist, dass es selbst in scheinbar zutreffenden Fällen wie der slawischen Korčak-Expansion im 5. und 6. Jahrhundert oder der Wielbark-Expansion im 1. und 2. Jahrhundert kaum noch unbewohnte Landstriche in Europa gab. Zur Zeit der ersten Ackerbauern 4000 Jahre früher stellte sich die Situation ganz anders dar. Um das Jahr 1000 waren zwar noch reichlich Waldgebiete vorhanden, die schon bald urbar gemacht werden sollten. Aber zu diesem Zeitpunkt hatten die Bauern bereits seit Jahrtausenden Land gerodet, so dass viele der besten Anbau- und Weideflächen längst vergeben waren. Daher war es selbst für Kleingruppen kaum möglich, sich aufs Geratewohl irgendwo anzusiedeln, ohne auf Widerstand zu stoßen. Wenn sich Familien oder Familienverbände des Korčak-Typs weitgehend konfliktlos ausbreiteten, so konnten sie das nur, weil sie sich dafür gezielt Regionen im mitteleuropäischen Bergland aussuchten, die wenig begehrt waren und eher abseits lagen. Und selbst dort lässt die anschließende vollständige Unterwerfung ganzer Landstriche unter das slawische Kulturmodell und das zuweilen aggressive Auftreten slawischer Gruppen auf einen gewissen Grad an Gewalt schließen. Dasselbe trifft vermutlich auch auf die Wielbark-Gruppen zu. Die frühe Wielbark-Expansion scheint von kleinen sozialen Gemeinschaften getragen worden zu sein, aber dann gerieten die nördlich angrenzenden Przeworsk-Gemeinschaften unter deren Einfluss. Das könnte freiwillig geschehen sein, doch vermutlich vermitteln uns die Kleingruppen-Migrationen aus der Wikingerzeit eher ein Bild davon, wie ein solcher Prozess verlief.
Etwa ab dem 9. Jahrhundert erkämpften sich kleine skandinavische Migrationseinheiten Territorien in
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