Invasion der Barbaren: Die Entstehung Europas im ersten Jahrtausend nach Christus (German Edition)
dem zum Mittelmeerraum orientierten Römischen Reich nicht mehr möglich, die überregionale Hegemonie auszuüben, die es 1000 Jahre lang praktiziert hatte. Dennoch ist es wichtig, nicht alles über den Haufen zu werfen und von ständig sich wandelnden Identitäten und einer geringen Zahl von Migranten auszugehen. Es geht mir nicht darum, die Bedeutung der Migration von mitunter sogar recht großen Gruppen zu bestreiten, sondern ihre verschiedenen Grundmuster im Zuge der Transformation des barbarischen Europa zu erörtern.
Mein Anliegen erschöpft sich nicht darin, die Bedeutung von Massenmigrationen im Kontext der anderen Phänomene des 1. Jahrtausends hervorzuheben. Vielmehr möchte ich zeigen, dass dem breiten Bild der Transformation des barbarischen Europa so etwas wie eine einheitliche Feldtheorie zugrunde liegt. Beim Prozess der Staatenbildung wie der Migration in all ihren Formen handelt es sich nicht um zwei verschiedene Arten der Transformation, sondern um verschiedene Reaktionen auf ein und dieselben Impulse: die massive Ungleichheit zwischen den mehr und den weniger entwickelten Gebieten Europas zu Beginn des 1. Jahrtausends. Meiner Ansicht nach haben Staatenbildung und Migration zur Beseitigung dieser Ungleichheit entscheidend beigetragen. Es sind eng miteinander verwandte Phänomene, die der Dominanz des Mittelmeerraums ein Ende setzten und den Grundstein für die Entstehung des modernen Europa legten.
KAPITEL 11
DAS ENDE DER MIGRATION UND DIE GEBURT EUROPAS
M itte der 890er Jahre stießen erneut Nomaden nach Mitteleuropa vor. Den Fußstapfen der Hunnen und Awaren folgend, verlagerten die Magyaren ihr Operationsgebiet von der nördlichen Schwarzmeerregion in die Große Ungarische Tiefebene. Ihr Auftreten entsprach im Großen und Ganzen dem, was man von kriegerischen Nomaden erwartete:
[Die Magyaren] verwüsteten ganz Italien und töteten viele Bischöfe. Da traten die Italiener zum Kampf gegen sie an, und 20 000 Mann fielen in einer Schlacht an einem einzigen Tag. Nachdem sie einen großen Teil Pannoniens zerstört hatten, zogen sie sich auf demselben Weg zurück, auf dem sie gekommen waren. In heimtückischer Absicht sandten sie Botschafter zu den Bajuwaren, angeblich um ihnen Frieden anzubieten, in Wirklichkeit aber, um das Land auszuspionieren. Daraufhin brachen Unheil und Schrecken sondergleichen über das baierische Königreich herein. Unerwartet setzten die Magyaren mit einem großen Heer über die Enns und überzogen Baiern mit Krieg. Mit Feuer und Schwert mordeten sie und verwüsteten an einem einzigen Tag ein Gebiet von 50 Meilen Länge und 50 Meilen Breite. 1
Die Bevölkerung in der Großen Ungarischen Tiefebene und in den angrenzenden Gebieten wie Großmähren war rasch unterworfen. Anschließend fielen die berittenen Räuberhorden der Magyaren mit einer Brutalität über Norditalien und Südfrankreich her, wie man sie seit den Tagen Attilas nicht mehr erlebt hatte. Im ersten Jahrzehnt des 10. Jahrhunderts schlugen die großen Heere der Magyaren dreimal ostfränkische Armeen.
In einem Punkt jedoch unterschieden sich die Vorstöße der Magyaren von denen früherer Nomaden. 500 Jahre zuvor hatten die Hunnen mit ihrem Zug nach Westen unter den hauptsächlich germanischsprachigen, halbunterworfenen Klienten des Römischen Reiches eine Massenflucht über die Grenze hinweg ausgelöst: in den 370er Jahren in die nördliche Schwarzmeerregion und eine Generation später in die Große Ungarische Tiefebene. Als 200 Jahre später die Awaren westlich der Karpaten aufgetaucht waren, hatten die Langobarden Richtung Italien Reißaus genommen und die slawischsprachigen Gruppen sich in alle Winde verstreut: nach Süden auf den Balkan, westwärts bis zur Elbe, nach Norden an die Ostsee und nach Osten bis ins russische Kernland. So verheerend das Auftauchen der Magyaren auch war, es löste keine Bevölkerungsbewegungen aus. Warum nicht? Die Antwort ist in dem dynamischen Verhältnis zwischen Migration und Entwicklung zu finden, das sich in den vorangegangenen 1000 Jahren herausgebildet hatte.
MIGRATION
Das Ausbleiben einer sekundären Migration nach dem Vorstoß der Magyaren scheint mir umso erklärungsbedürftiger, als ich entgegen neueren Trends in der Forschung der festen Überzeugung bin, dass die Migration eines der wichtigsten Phänomene des 1. Jahrtausends ist. Diese Forschungstendenzen verbannen zwar die Migration nicht vollständig aus der Geschichte des 1. Jahrtausends, ziehen aber ihre
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