Invasion der Barbaren: Die Entstehung Europas im ersten Jahrtausend nach Christus (German Edition)
zu bekräftigen scheinen, sondern auch, weil dieser besondere Typ von Migrationseinheit nicht in moderne Migrationsmuster passt, wonach große gemischte Migrantengruppen nur auftreten, wenn ihre Motivation politisch-negativer Natur ist, also wenn sie – wie Anfang der 1990er Jahre in Ruanda – vor Unterdrückung, Pogromen und Massakern fliehen. Von solchen Ereignissen ist in den Quellen aus dem 1. Jahrtausend jedoch nicht die Rede, sondern von einer eher positiven Motivation und einem höheren Organisationsgrad der Gruppen, die in räuberischer Absicht in fremde Territorien eindrangen. Können wir also den Quellen glauben? Gab es unter den Migrationsbewegungen des 1. Jahrtausends auch große, gemischte und organisierte Bevölkerungsgruppen?
Invasion
Die Archäologie kann zur Beantwortung dieser Frage wenig beitragen. Selbst ihre neuesten Methoden der DNA- und Strontiumisotopenanalyse helfen kaum weiter. Es ist bislang zweifelhaft, ob aus dem feuchten und kalten Nordeuropa brauchbare DNA von menschlichen Überresten aus dem 1. Jahrtausend gewonnen werden kann. Seit dieser Zeit hat sich demographisch zu viel verändert, als dass man aus der prozentualen Verteilung heutiger DNA-Muster klare Erkenntnisse über das relative Verhältnis der Vorfahren vor 1500 Jahren gewinnen könnte, ausgenommen vielleicht den Sonderfall Island, das vor der Wikingerzeit noch nicht besiedelt war. 3 Durch Strontiumisotopenanalyse hingegen kann man nur zeigen, wo jemand als Kind lebte, bevor die Zahnbildung abgeschlossen war, so dass Kinder von Immigrantenpaaren auf diese Weise nicht von einheimischen Kindern zu unterscheiden sind. Eine Strontiumisotopenanalyse der Zähne führt somit tendenziell zu einer Unterschätzung der Kopfzahl einer Migrantengruppe. Auch die Theorien, die sich auf traditionellere Methoden der archäologischen Forschung stützen – den Transfer regionaltypischer Gegenstände oder Bräuche in neue Regionen –, sind nicht zuverlässiger.
Dafür gibt es einen einfachen Grund. Um die Zeitenwende war der größte Teil Europas bereits seit Jahrtausenden mehr oder weniger besiedelt und wurde landwirtschaftlich genutzt. Und da selbst die aggressivsten und dominantesten Einwanderer in der Regel die alteingesessene Bevölkerung zumindest als Arbeitskräfte auf ihren Äckern einsetzten, führte eine Migration meist nicht zu deren vollständiger Vertreibung. Studien der vergleichenden Migrationsforschung zeigen, dass die Ankunft von Migranten in einem bereits besiedelten Gebiet stets zu einem Austausch materieller und nichtmaterieller Kultur führte. Im materiell-kulturellen Fundus einer Gruppe gibt es nur relativ wenig Objekte, die so große Bedeutung haben, dass man an ihnen auf Gedeih und Verderb längerfristig festhält. Alles andere unterliegt dem Wandel und passt sich den neuen Gegebenheiten an, so dass kaum zu erwarten ist, dass unter normalen Bedingungen Migrationsbewegungen im 1. Jahrtausend den kompletten Transfer einer materiellen Kultur von Punkt A nach Punkt B bedeuteten. Im materiell-kulturellen Profil jeder von einer Migration betroffenen Region wird es immer auch eine gewisse Kontinuität geben, so dass man jeden beobachteten Wandel ebenso gut durch innere Entwicklungen erklären kann. Gegenstände und Ideen können sich auch ohne Migration verbreiten, und wenn die archäologischen Funde nur auf einen begrenzten Transfer von Gegenständen oder Ideen schließen lassen, braucht man nicht unbedingt Einwanderer zur Erklärung. Dass dies aber jederzeit möglich ist, heißt noch lange nicht, dass es auch richtig ist. Die allen archäologischen Funden eigene Vieldeutigkeit wird zuweilen überinterpretiert. Die vieldeutigen archäologischen Zeugnisse für ein Migrationsgeschehen beweisen also noch nicht, dass der beobachtete Wandel einer materiellen Kultur auf Migration zurückzuführen ist, aber sie widerlegen es auch nicht. Allein auf der Grundlage archäologischer Funde lässt sich diese Frage eben nicht entscheiden. Es ist wichtig, diesen Punkt im Auge zu behalten, denn in jüngeren Studien herrscht die Tendenz, vieldeutige archäologische Zeugnisse schlicht als Beweis dafür zu nehmen, dass keine Migration stattgefunden habe. Das führt uns zwangsläufig zu den historischen Quellen und zu der Frage zurück, inwieweit sie zuverlässige Aussagen über die Existenz großer, organisierter und gemischter Invasorengruppen im 1. Jahrtausend enthalten.
Auch darauf gibt es keine einfache Antwort. In einigen Fällen
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