Invasion der Barbaren: Die Entstehung Europas im ersten Jahrtausend nach Christus (German Edition)
wird das komplexe Bild ganz offenkundig von einem Migrationstopos, einer irreführenden Invasionserzählung, überlagert. Jordanes’ Bericht über die Expansion der Goten in die nördliche Schwarzmeerregion im späten 2. und im 3. Jahrhundert ist dafür ein klassisches Beispiel, ebenso wie die Schilderungen aus karolingischer und nachkarolingischer Zeit über die Langobarden des 4. und 5. Jahrhunderts. Es gibt jedoch auch andere Berichte über Migrationsströme von mehr als 10 000 Kriegern und ihren Angehörigen, die durchaus plausibel sind. Man denke nur an die Terwingen und die Greutungen, die 376 um Aufnahme ins Römische Reich baten, oder an den Zug der Ostgoten 488/489 nach Italien unter Theoderichs Führung. In beiden Fällen wurde wenig erfolgreich versucht, die Glaubwürdigkeit unserer Hauptzeugen, Ammian bzw. Prokop, zu erschüttern. Ammian beschrieb viele verschiedene Barbarengruppen auf ihren Zügen durch römisches Territorium, aber nur in diesem einen Fall spricht er von einer sehr großen gemischten Gruppe aus Männern, Frauen und Kindern. Die Vorstellung, er sei nur hier, aber nirgends sonst einem Migrationstopos aufgesessen, entbehrt jeder Grundlage. Ähnliches gilt für Prokop. Er ist nicht der Einzige, der den Marsch der Ostgoten nach Italien als Wanderung eines ganzen »Volkes« in einer Weise schildert, die an die Invasionshypothese erinnert. Ein zeitgenössischer Kommentator an Theoderichs Hof äußerte sich in ähnlicher Form über den Zug der Goten. Ein solches Zeugnis hätte vielleicht vor keinem heutigen Gericht Bestand, aber es ist nicht weniger glaubwürdig als jede andere Quelle des 1. Jahrtausends. Es aufgrund eines bloß vermuteten Migrationstopos in Frage zu stellen wäre reine Willkür.
Nicht ganz so stichhaltig, aber dennoch hinreichend plausibel sind die Schilderungen vom Eindringen der großen, organisierten Gruppen der Vandalen und Alanen auf römisches Territorium ab 406 und des Zuges der Goten unter Führung von Radagaisus im Jahr 405. 4 Der Westgotenkönig Alarich hatte seinen Aufstieg wahrscheinlich dem Umstand zu verdanken, dass er die Terwingen und die Greutungen 376 mobilisierte, ihnen 382 einen vertraglich gesicherten Siedlungsraum auf dem Balkan verschaffte und sie ab 395 bei weiteren Zügen anführte. Das alles sind Beispiele für Wanderungen großer gemischter Gruppen, die sich durchaus ins Muster der Migrationsbewegungen des 1. Jahrtausends einfügen. Daneben gibt es noch andere Beispiele, die etwas weniger gut bezeugt sind, aber dennoch nicht ignoriert werden dürfen, vor allem die Bevölkerungsbewegungen im Zusammenhang mit dem Aufstieg und Fall des Hunnenreichs. In dieser Zeit trafen in der Großen Ungarischen Tiefebene bewaffnete, größtenteils germanische Gruppen aufeinander, die schließlich abzogen, als mit dem Zusammenbruch des Hunnenreichs die Konkurrenz zwischen ihnen wuchs. Hier sind Gruppenmigrationen großen Stils entweder nur teilweise (wie im Fall der Rugier und Heruler) oder nur indirekt (wie bei den Skiren, Sueben und Alanen) nachweisbar. Auch wenn einige Migrationsbewegungen fälschlicherweise so dargestellt wurden, dass sie der Invasionshypothese entsprechen, gibt es also viele andere Beispiele, die eine solche Verfälschung keineswegs vermuten lassen. Und selbst die Wanderungen der Goten und der Langobarden sind einer genaueren Betrachtung wert.
In beiden Fällen handelt es sich um eine Schilderung, deren Perspektive durch den langen Zeitabstand zu den Geschehnissen verzerrt ist. Jordanes schrieb über Ereignisse, die sich 300 Jahre vor seiner Zeit zugetragen hatten, und die langobardischen Autoren, deren Schriften aus dem 9. Jahrhundert und teilweise sogar aus noch späterer Zeit stammen, berichteten über Migrationsbewegungen, die 400 – 500 Jahre zurücklagen. Kein Wunder, dass ihnen mancher Fehler unterlief. Doch in keinem der beiden Fälle war es völlig aus der Luft gegriffen, von Migrationen zu sprechen. In ihrer Gesamtheit lassen die Zeugnisse sowohl über die Goten des 2. und 3. Jahrhunderts als auch über die Langobarden des 4. und 5. Jahrhunderts sehr wohl darauf schließen, dass beträchtliche Bevölkerungsverschiebungen in diesen Jahrhunderten eine große Rolle spielten.
Was die Goten betrifft, ist die Quellenlage besser. Zeitgenössischen Berichten zufolge waren die Goten im 1. und 2. Jahrhundert im Norden Polens und seit Mitte des 3. Jahrhunderts nördlich des Schwarzen Meeres ansässig. In dieser Region kam es im 3. Jahrhundert
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