Irgendwann Holt Es Dich Ein
arbeitete, die sie als Streberin bezeichneten, weil sie in der Mittagspause lieber Bücher las statt My Guy, das angesagte Teenagerblatt. Und am schlimmsten war, dass Kates Mutter schlanker Hand behauptete, Kate würde keine neuen Sachen brauchen, sondern könne in der Oberstufe ihre Schuluniform auftragen, obwohl ab diesem Jahrgang gar keine Uniformpflicht mehr bestand. Kate vermutete, dass die anderen Mädchen einen Großteil des Sommers mit dem Aussuchen von topmodischen, teuren Klamotten verbracht hatten, mit denen sie ihre Mitschülerinnen beeindrucken konnten. Derweil hatte Kate verzweifelt ihre drei weißen Schulblusen in verschiedenen Dylon-Tönen gebatikt und sich das Hirn zermartert, ob es eine witzige, modische oder wenigstens ironische Möglichkeit gab, wie sie den flaschengrünen Pullover mit dem V-Ausschnitt tragen konnte. An jenem ersten Schultag war Kate morgens zeitig aufgebrochen und hatte einen Zug genommen, der eine halbe Stunde eher fuhr, um den großen Pulk der Lady-Jane-Grey-Schülerinnen zu meiden. Sie hatte zwischen Hoffnung und Angst geschwankt: der Angst, dass die Oberstufe genauso übel würde wie die vorherigen Klassen, und der Hoffnung, dass sich etwas ändern könnte. Es sind sicher neue Mädchen dabei, hatte sie gedacht. Die kennen mich nicht, wissen nichts von meiner Herkunft oder der ganzen Geschichte. Vielleicht ist eine von denen wie ich, und ich finde eine richtige Freundin. Vielleicht wird jetzt alles anders. Deshalb hatte sie sich einen klitzekleinen Moment der Freude gestattet, als sie in den Gemeinschaftsraum kam und Hattie allein dort sitzen sah, auf der Sessellehne hockend wie ein exotischer Vogel - bevor Kates unvermeidliche Furcht sie einholte und ihre Schultern nach unten drückte.
Kate saß an ihrem Lieblingstisch in der Bibliothek, einem langen Holztisch, in dessen Platte die Initialen früherer Lady-Jane-Mädchen eingeritzt waren, die Kate mit dem Finger nachmalte. Außer ihr war niemand in der Bibliothek, schließlich war heute der erste Schultag, und bis zum Aufruf dauerte es noch fünfzehn Minuten. Von ihrem Platz aus konnte Kate den Schulhof und das Haupttor sehen. In Dreier- und Vierergruppen kamen die Mädchen in ihren flaschengrünen Blazern mit passenden Baskenmützen, blauen Röcken und grauen Kniestrümpfen durchs Tor geströmt. Alle schritten sie hocherhobenen Hauptes daher: selbstsicher, glücklich und furchtlos.
Die Bibliothek war Kate der liebste Raum im ganzen Gebäude. Dort musste man nicht mit jemandem zusammen sein, denn in der Bibliothek allein zu sitzen wirkte nicht merkwürdig, nicht sehr jedenfalls. Auf den altmodischen Holzregalen zu ihrer Linken standen Kunstgeschichtsbände, große ausgeblichene Leineneinbände voller Sepia-Reproduktionen von Gemälden Botticellis oder Michelangelos. An der Wand direkt vor Kate hing ein gerahmter Druck der »Mappa Mundi«.
Kate versuchte, eine Zeitung zu lesen, aber in ihrem Kopf wiederholte sich fortwährend die Begegnung mit Harriet Fox, Hattie, und sie überlegte, wie sie hätte anders verlaufen können. Was hätte sie sagen sollen? »Hallo, ich bin Kathryn, aber alle nennen mich Kate.«
Wäre das doch bloß wahr gewesen! Sie hätte gern gehabt, dass alle sie Kate nannten, doch die Mädchen taten es nicht. Auf der Lady Jane suchte man sich seinen Spitznamen nicht selbst aus, zumindest nicht, wenn man Kathryn Small war. Kein Mensch auf der Schule nannte sie Kate. Die meisten Mädchen sprachen sie überhaupt nicht an, oder wenn, dann riefen sie Ka-ffryn, rollten das f ins r und machten allein durch die Betonung deutlich, dass nicht einmal die Schreibweise ihres Namens stimmte und sie möglicherweise einen besseren Stand gehabt hätte, wenn ihr Name »Catherine«, »Katherine« oder »Katharine« geschrieben würde.
Was sonst hätte sie zu der Neuen sagen können? »Hör nicht auf das, was die anderen über mich sagen. Ich bin eigentlich ganz nett«? Ja, klar, das hätte sicher ganz toll funktioniert! Wie auch immer, Kate hatte gar nichts gesagt. Stattdessen saß sie nun in der Bibliothek, blätterte in einer Zeitung und wusste, dass es schon zu spät war. Sie hatte ihre Chance verpasst und musste weitere zwei Jahre allein an einem Tisch im Klassenzimmer und in der Cafeteria verbringen, ohne Freundinnen, und dabei vorgeben, dass es ihr nichts ausmachte.
Harriet Fox. Vom allerersten Tag an hieß sie bei jedermann »Hattie«. Alle hatten ihren Spitznamen einfach so übernommen; sie musste nicht einmal
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