Irgendwann Holt Es Dich Ein
geben, bestätigte sie mit ihrem »Geständnis« das Bild, das die Direktorin von ihren Schülerinnen hatte. Wein, ein guter noch dazu, war für ihre jungen Damen vollkommen akzeptabel.
Kate hatte erwartet, dass ihre Freundschaft mit Hattie nach dem Cambridge-Wochenende vorbei wäre. Aber das war ein Irrtum. Sie ging weiter, obgleich anfallsweise, mit Unterbrechungen. Hattie rief sie von Zeit zu Zeit an den Wochenenden an, forderte Kate auf, mit ihr auszugehen, sie hier- oder dorthin zu begleiten. Der Zwischenfall mit dem Mädchen, das in Cambridge umkam, hatte Kate Angst eingejagt. Hatte sie befürchtet, dass mit Hattie eines Tages dasselbe passieren könnte? War sie deshalb herbeigeeilt, wann immer Hattie sie rief - in jenen letzten beiden Schuljahren und in dem Sommer zwischen Schule und Universität? Das Telefon läutete, und Hattie sagte: »Mir ist langweilig. Komm und leiste mir Gesellschaft.«
Und Hattie konnte die beste Gesellschaft von allen sein - düster, waghalsig und witzig, voller Leben und Abenteuerlust. In dem Sommer nach dem Schulabschluss besuchten sie zusammen zahlreiche schrille Partys, erlebten unzählige Abende, die großartig anfingen und doch in Tränen und Reue endeten, mit verschmiertem Make-up, zerrissenen Kleidern, abgebrochenen Absätzen. Abende, die so viel Aufregendes versprachen, aber übel ausgingen. Am Ende lief es jedes Mal darauf hinaus, dass Kate Hatties Haar zurückhielt, während diese sich in einer Seitengasse übergab, oder sie über Kater und Schlimmeres hinwegtröstete. Wie viele Nächte hatte Kate Hattie in Taxis bugsiert, Hattie nach Hause begleitet und sie, halb bewusstlos, in die stabile Seitenlage gebracht, wobei sie betete, ihre Freundin möge nicht sterben? Und dann, eines Nachts, hatte etwas in Kate »klick« gemacht. Sie erinnerte sich nicht mehr genau, wie es kam, bloß dass es der letzte Tropfen war, der das Fass zum Überlaufen brachte. In jener Nacht entschied Kate, dass es ihr reichte, dass sie weggehen musste, ehe etwas richtig Übles geschah. Das war vor zwanzig Jahren gewesen.
Kates Gedanken blieben im Takt des Rudergerätes. Sie wurde schneller und schneller. Zurückstemmen mit den Beinen, Arme anziehen und wieder nach vorn. Endlich hatte Kate den Punkt erreicht, den sie liebte: Sie überwand die Schmerzgrenze. Von nun an wurde sie von Wärme, Heiterkeit und der Überzeugung beherrscht, sie könne ewig auf dieser Maschine rudern. Dies war der Moment, auf den sie sich bei jedem Training freute, der Moment, in dem ihr Körper und ihr Geist sich in vollständigem Einklang befanden.
Und dann war er wieder fort, der Moment, und mit ihm auch die Konzentration. Kates Gedanken schweiften ab, kehrten zurück zu dem entsetzlichen Augenblick in der U-Bahn-Station in Camden. Sie dachte an Hatties Gesicht unmittelbar vor dem Fall, kurz vor dem Sprung. Wir haben etwas Furchtbares getan.
Was hatte Hattie gemeint? Irgendetwas musste schrecklich auf ihr gelastet haben. Sie war verwirrt und betrunken gewesen, und Kate zu sehen hatte eine Kurzschlussreaktion in ihr ausgelöst. Wir haben etwas Furchtbares getan. Plötzlich fragte Kate sich, ob es eine Entschuldigung sein sollte. Vielleicht hatte Hattie sie gesehen und sich an alles erinnert - daran, wie sie wie all die anderen Mädchen Kate in der Schule behandelt hatten. Und sie hatte sich schuldig gefühlt.
Kate fröstelte, während sie ihren Körper entspannte, denn ihr wurde kalt auf dem Rudergerät. Sie war verärgert, wütend. Das war blöd, sagte sie sich. Hör auf, dich für das fertigzumachen, was Hattie gestern Abend getan hat. Hattie hatte es mal wieder geschafft. Nach zwanzig Jahren hatte sie sich abermals erfolgreich in Kates Gedanken gestohlen, sie in ihr persönliches Drama hineingezogen. Wie konnte sie es wagen? Sie hatte Kate gezwungen, etwas mit anzusehen, was nichts mit ihr, Kate, zu tun hatte. Hattie, die Drama-Queen hatte noch nie ohne Publikum auskommen können, und in Kate fand sie stets aufs Neue eine dankbare Zuschauerin. Hattie hatte Kate als Zuschauerin für ihren großen Abgang missbraucht.
VIER
Neil saß in seinem Arbeitszimmer, dem kleinen Dachzimmer im dritten Stock, das ein Kinderzimmer werden sollte, ehe sich die Dinge anders entwickelten. Sein Laptop stand aufgeklappt vor ihm, und er hielt einen großen Becher mit starkem Tee in der Hand. Dieses Zimmer, sein eigener kleiner Raum, hatte ihm gefehlt. Auf den Regalen und dem Schreibtisch stapelten sich Zeitungsausschnitte und
Weitere Kostenlose Bücher