Irgendwann passiert alles von allein
Boden. Draußen begann der Sommer.
|48| Fünf
Ich wollte los. Aber bevor ich ging, zählte ich nochmals die Scheine. Ich hatte das oft getan in letzter Zeit. Das Geld zu zählen, machte mir Spaß. Nur das Papier war eklig. Es roch nach alten Leuten und danach klebten meine Finger.
Es war Freitagabend, kurz nach 19 Uhr, und vor ein paar Stunden hatte mich Sam angerufen. Er hatte hektisch geklungen, seine Sätze waren kurz und abgehackt gewesen, als hätte er es eilig gehabt. Aber Sam hatte nur gesagt, er läge daheim auf dem Bett und rauche Gras. Und dass bei Fabian heute »Session« wäre. Sam sagte nie Party, sondern immer nur »Session«. Fabians Eltern waren in Urlaub gefahren und Leo übernachtete seit gestern dort. Ich hatte ihm sagen wollen, dass mir jetzt auch mulmig bei der Sache sei und dass ich ihn gut verstehen könne, denn gegen Leo anzureden, das klappe eh überhaupt nie, weil Leo mit seiner Art einfach jeden in Grund und Boden argumentieren würde. Aber Sam hatte nur immer wieder gesagt »Maul halten«, wir müssten »alle unbedingt das Maul halten«. »Maul halten« sei jetzt »das Allerwichtigste«. »Maul halten, Maul halten.« Es war das erste Mal seit Langem, dass Sam nicht stotterte.
|49| Nachdem wir das Haus verlassen hatten, waren wir in den Supermarkt gegangen und hatten einen Einkaufswagen mit Bier, Prinzenrolle, Eistee und Hamburgern beladen. Für die Hamburger hätten wir eine Mikrowelle gebraucht. Wir aßen sie kalt, sie schmeckten trotzdem. An der Kasse hatte Sam der Kassiererin vorsichtig einen Hunderter gegeben. Sie hatte den Schein ohne zu zögern in ihre Kasse zu den anderen Hundertmarkscheinen gelegt und Sam das Wechselgeld herausgegeben. Den Einkaufswagen hatten wir mit zur Halfpipe genommen und ihn dort stehen gelassen. Mir hatte es gefallen, wie die Rollen des Wagens auf dem Asphalt klapperten. Es hatte auffordernd gescheppert, sodass ich immer schneller schob. Schließlich waren Sam und ich gerannt und bei jeder kleinsten Biegung hatte der Wagen gedroht umzukippen. Wir hatten darüber gelacht. Wahrscheinlich stand er immer noch dort, aber da es seit Kurzem regnete, war ich nicht mehr an der Halfpipe gewesen.
Während ich die Scheine zählte, fiel mir der Brief wieder ein. Nachdem wir die 5000 Mark aufgeteilt hatten und Leo schon auf der Treppe stand, hatte ich noch einen der Umschläge aus dem Stapel eingesteckt. Er lag nun in meiner Schreibtischschublade. Bis jetzt hatte ich noch nicht daran gedacht, den Brief zu lesen. Ich steckte ihn in meine Tasche, nahm fünf Scheine aus dem Bündel und ging los.
In der S-Bahn saßen Anzugträger, Kofferträger, Krawattenträger und dickliche Frauen in den Vierzigern. |50| Niemand sprach, nur die Waggonräder klapperten rhythmisch auf den Schienen. Taktak, taktak, taktak. Das Schweigen der Leute nervte mich.
Der Regen hatte aufgehört, von Westen her schien schräges Licht auf die knöchelhohen Maispflanzen. Taktak, taktak, taktak. Ich suchte mir einen der Kofferträger aus und begann ihn anzustarren. Sein Kopf hing schlaff herab, müde suchten seine Augen die Spalten der Zeitung ab. Er trug ein braungelb gefasertes Sakko, eine randlose Brille, auf der Mitte seines Kopfes klaffte eine Leere, die von ein paar einzelnen braun schimmernden Haaren durchzogen war. Er sah lächerlich aus. Er musste etwa Mitte vierzig sein. Er machte mich traurig. Taktak, taktak, taktak. Er machte mich zornig, wie er so furchtbar mittelmäßig dasaß und seit Jahren auf der immerselben Strecke zur immerselben Uhrzeit die immerselbe Zeitung las. Meine Eltern wollten immer, dass ich Zeitung lese. Aber jedes Mal, wenn ich es tat, fand ich darin nur komplexe Langeweile: Langweiler, über die Langweiler schrieben und damit die Langeweile nur noch weiter anheizten. Bis irgendwann die Langeweile alles verschluckte. Darauf lief es doch hinaus, wenn man mal ehrlich war. Meine Hand glitt in meine Hosentasche und ich rieb das Bündel zwischen Daumen und Zeigefinger wie eine Wunderlampe. Taktak, taktak, taktak. Mir fiel der Brief ein, ich zog ihn hervor, doch dann begann die S-Bahn zu bremsen und ich steckte ihn wieder ein.
|51| Fabian wohnte in einem Reihenhaus, dessen Vorgarten nur aus ein paar Sträuchern bestand. An der Rückseite schmiegten sich längliche, von Hecken umrahmte Gärten aneinander, kleine Parzellen, in denen Familienväter im Sommer marinierte Schweinekoteletts grillten. Ich klingelte. Als die Tür aufging, stand nicht Fabian,
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