Irgendwann werden wir uns alles erzählen
küssten. Katja hatte den Auftrag, meiner Mutter Bescheid zu geben.
Einige Tage später in der Schule wurden wir zur Direktorin bestellt. Alle nacheinander. Ich musste erklären, wo ich an jenem Tag der Demonstration gewesen bin, und schließlich, was ich dort zu suchen gehabt hätte. Wer uns verraten hatte, weiß ich bis heute nicht sicher, aber die Katja war schneller wieder draußen als ich.
In dieser Zeit war ich häufiger auffällig geworden; ich hatte mich entschieden, nicht an der Jugendweihe teilzunehmen und mich stattdessen konfirmieren zu lassen. Ein Schatten hatte sich auf meine ansonsten blütenweiße Laufbahn gelegt. Ich denke, der Siegfried hatte unrecht, als er sagte, ich sei die Einzige mit einer lupenreinen Akte.
Dass ich nicht, wie die anderen aus meiner Klasse, zur Jugendweihe ging, hatte mehrere Gründe. Zu jener Zeit war ich häufig im Pfarrhaus gewesen. Einer der Pfarrerssöhne, David hat er geheißen, kam öfter zu uns herüber. Er kletterte über den Zaun und brachte mir Geschenke mit. Die Pfarrersfamilie bekam regelmäßig Westbesuch, und David war bestens versorgt mit feinen Dingen von drüben: Schokolade, Gummibärchen, Poster von Rockstars, manchmal sogar Platten. Da saßen wir dann im Zimmer meiner Mutter und hörten verbotene Musik. Ich war furchtbar verliebt in ihn. Alle paar Tage aß ich bei ihm und seiner Familie Abendbrot und betete inbrünstiger als die Pfarrerskinder, wenn es vor dem Essen hieß: Komm, Herr Jesus, sei unser Gast, und segne, was du uns bescheret hast. Keines der Kinder war Pionier, keines in der Freien Deutschen Jugend; sie sprachen über andere Dinge, als ich sie kannte, und waren so klug wie sonst niemand in unserem Dorf. Ich bewunderte sie grenzenlos.
Und dann, schon lange vor dem großen Ereignis, bekam die ganze Klasse 8 den Gelöbnistext der Jugendweihe mit nach Hause. Wir sollten uns einstimmen auf die bevorstehende Feierlichkeit, und der Text begann so:
Liebe junge Freunde!
Seid ihr bereit, als junge Bürger unserer Deutschen Demokratischen Republik mit uns gemeinsam, getreu der Verfassung, für die große und edle Sache des Sozialismus zu arbeiten und zu kämpfen und das revolutionäre Erbe des Volkes in Ehren zu halten, so antwortet:
Ja, das geloben wir!
David meinte damals zu mir, ich könne das nicht ernstlich sagen, ich solle mir einmal überlegen, was ich da eigentlich sagen würde. Außerdem behauptete er, es gäbe Leute, die einfach verschwänden, weil sie gegen den Staat gewesen seien. Das habe er vom Vater gehört, und der Vater würde niemals lügen. Und gerade zu dieser Zeit war auch noch einer der Brüder meiner Mutter zu Besuch gewesen und hatte von einem Freund berichtet, der knapp zwei Jahre zuvor wegen des Besitzes und der Verbreitung imperialistischer Literatur – es waren Bücher einiger verbotener Philosophen dabei – verhaftet worden war. Er kam ins Gefängnis nach Bautzen, wurde ein Jahr später wieder entlassen und starb kurz darauf an einer besonders schnell und radikal verlaufenden Krebserkrankung. Da war er neunundzwanzig Jahre alt und Vater von zwei Kindern. Meine Mutter hat viel getuschelt mit ihrem Bruder, und was ich hören konnte, war, dass sie glaubten, es hätte mit dem Gefängnis zu tun, sie hätten ihn dort krank gemacht. Ich musste damals furchtbar viel an diesen Mann denken, und da kamen mir die Worte »große und edle Sache des Sozialismus« nun tatsächlich unaussprechlich vor. Dazu kam, dass der Sohn der Postfrau verschwunden war, seit er vollkommen betrunken einen Fahnenmast in der Stadt erklommen und immer wieder »Scheißstaat!« geschrien hatte. Anton hieß er, und den haben wir nie wieder gesehen. David meinte, die Zeichen könne ich nicht ignorieren.
Das Gelöbnis hatte jedoch noch mehr Teile, und der letzte ging so:
Seid ihr bereit, als wahre Patrioten die feste Freundschaft mit der Sowjetunion weiter zu vertiefen, den Bruderbund mit den sozialistischen Ländern zu stärken, im Geiste des proletarischen Internationalismus zu kämpfen, den Frieden zu schützen und den Sozialismus gegen jeden imperialistischen Angriff zu verteidigen, so antwortet:
Ja, das geloben wir!
An dieser Stelle hatte ich ein rein persönliches Problem. Ich wollte keinesfalls die Freundschaft mit der Sowjetunion vertiefen, aus dem einfachen Grund, weil mein Vater uns wegen einer sowjetischen Frau verlassen hatte. Er war ganz ins Sowjetland verschwunden, nachdem er auch vorher schon die meiste Zeit des Jahres an der sowjetischen
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