Irgendwann werden wir uns alles erzählen
ich euch! Da wurde unsere zukünftige Elite herangezogen, stimmt’s, Maria?« Ich bin den Tränen nahe. Was weiß der schon von der Pionierrepublik? Gisela schaut verständnislos, und dann muss ich erzählen und lasse den Siegfried dabei nicht aus den Augen. Tatsächlich wird er auch immer stiller und am Ende sogar ein bisschen blass.
Ich war zwölf, Klassenbeste und stellvertretende Freundschaftsratsvorsitzende der Erich-Weinert-Oberschule in R. Eines Tages wurden Mutter und ich am Nachmittag zur Direktorin bestellt, und sie sagte uns, ich sei in unserem Kreis ausgewählt worden, in die Pionierrepublik »Wilhelm Pieck« zu fahren. Sechs Wochen lang. In der Schulzeit. Das war eine Auszeichnung, die man nicht ablehnte. Und so fuhr ich im Februar 1986 mit vielen anderen Kindern aus verschiedenen Kreisen und einer Gruppe Pionierleiter mit dem Zug Richtung Hauptstadt. Von dort aus wurden wir mit Bussen ins Lager zum Werbellinsee gefahren. Schon der erste Tag war eine Katastrophe. Ich besaß kein Pionierkäppi, zum Binden des roten Halstuchs benutzte ich den Pfadfinder- statt den Pionierknoten, und auf dem Ärmel der weißen Bluse fehlte das Emblem. Ich hatte noch nie eine Bluse mit Emblem besessen. Meine Mutter ließ mich immer Strickjacken darüberziehen, und niemanden hat das je gestört. Beim ersten großen Fahnenappell musste ich zunächst am Rand der letzten Reihe stehen, dann in der Mitte des im Viereck aufgestellten Appells – dort erhielt ich einen vor allen ausgesprochenen Tadel wegen fehlender Achtung vor der Pionierorganisation und damit des Deutschen Demokratischen Staates, und später wurde ich in das Büro des diensthabenden Pionierleiters gerufen. Über das Gemeindeamt im Dorf wurde eine Nachricht an meine Mutter geschickt. Sie gab noch am selben Tag ein Päckchen mit den fehlenden Sachen auf. Und drei Tage später sah auch ich aus wie alle anderen Mädchen: dunkelblauer Rock, weiße Pionierbluse, ordentlich geknotetes rotes Halstuch und das blaue Käppi auf dem Kopf.
Es gab unendlich viele Regeln. Wie man die Kleidung am Abend, nach dem Ausziehen, über den Stuhl zu legen hatte, das Halstuch immer zuoberst, wie die Betten militärisch akkurat zu machen waren, wann aufgestanden wurde, um Frühsport zu machen, unter der Beschallung der Lautsprecher, die in allen Häusern und auf dem gesamten Lagergelände installiert waren. Ein Marschlied begleitete unseren allmorgendlichen Frühsport, ich erinnere mich nur noch an den Refrain: Pioniere voran, lasst uns vorwärtsgehen! Pioniere, stimmt an, lasst die Fahnen wehen! Unsre Straße, sie führt in das Morgenlicht hinein, wir sind stolz, Pioniere zu sein!
Dann folgte ein langer Tag mit Schule, verstärktem Russischunterricht und Staatsbürgerkunde. Die Mahlzeiten nahmen wir gemeinsam ein, in einem großen Saal, wo unter den Tischen die Kakerlaken herumliefen. Ich hatte noch niemals vorher einen Kakerlak gesehen und ekelte mich furchtbar. Dreimal am Tag war Fahnenappell, der mit der Meldung »Thälmann-Pioniere, seid bereit!« und unserer Antwort »Immer bereit!« begann und endete. Am Abend sahen wir kollektiv die Aktuelle Kamera und manchmal den Schwarzen Kanal mit Karl-Eduard von Schnitzler. In einer der Sendungen wurde ein westdeutscher Obst- und Gemüsestand gezeigt mit herrlich leuchtenden Früchten. Doch dann drehte der Reporter einige Obststücke um und zeigte auf braune Flecken und Schimmel. Uns schauderte. »Wie ihr sehen könnt: Es ist nicht alles Gold, was glänzt«, sagte die Pionierleiterin triumphierend. Im nächsten Bild sah man einen Obdachlosen, der seine schmutzige Hand bittend nach oben hielt. Wir waren schockiert.
Wir alle schrieben Tagebuch; das sollten wir tun, und wenig später wussten wir auch, warum. Denn eines Morgens kam eine der Aufsichtspersonen und sammelte alle Tagebücher ein. Am nächsten Tag lagen unsere gesammelten Werke für jeden zugänglich auf Tischen in den Foyers der Wohnhäuser. Der Gedanke eines Einzelnen wurde zum Gedanken aller. Hier gehörte nichts mehr irgendwem, oder anders gesagt: Alles gehörte allen.
Gegenstände oder Spielzeug, die offensichtlich aus dem imperialistischen Ausland kamen, wurden konfisziert. Bei mir waren es ein Federmäppchen mit einer kleinen britischen Flagge und ein Nachthemd mit einer Figur aus einem amerikanischen Zeichentrickfilm darauf. Hin und wieder bekamen wir die getragenen Kleider einer entfernten Verwandten meiner Mutter aus dem Westen.
Meine Zimmergenossinnen besaßen keine
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