Irgendwann werden wir uns alles erzählen
Erdgastrasse verbracht hatte. Ich hatte also eine persönliche Feindschaft mit der UdSSR. Sie war mir zutiefst zuwider, und auch die Sprache habe ich damals gehasst, obwohl es uns zugutekam, dass ich die Briefe, die meine Mutter regelmäßig in den Taschen des Vaters fand, lesen konnte und sie so darauf gekommen war, was der Vater in der Sowjetunion trieb.
Außerdem war meine Sehnsucht nach der bunten Vielfalt des Westens riesengroß gewesen. Auch ich wollte diese Dinge haben, ich wollte nicht dagegen kämpfen, ich wollte sie besitzen. Doch der wichtigste aller Gründe war meine erste Liebe David, dem zuliebe ich fast alles getan hätte.
Meine Entscheidung stand also fest. Mutter hat damals viel geweint und gesagt, ich sei mindestens so störrisch wie der Vater, wenn nicht noch viel schlimmer. Der Ärger war abzusehen und hielt sich am Ende doch in Grenzen. Ich war unbeirrbar und lernte nun lieber Katechismustexte, Bibelverse und das Glaubensbekenntnis auswendig, denn Gott, das sagte Davids Vater oft, sei größer als der Sozialismus.
Das alles habe ich jedoch nicht erzählt. Für Gisela war das Wenige schon mehr als genug. Sie scheint von einer Welt, die sie von der anderen Seite der Mauer immer nur mit Mitleid und einer leisen Verachtung betrachtete, nichts mehr wissen zu wollen. In solchen Gesprächen steht sie außen vor, weit getrennt von uns. Ich habe gesehen, wie sie die Hand vom Hartmut nahm und ängstlich ihre Hände um die seine legte, als fürchtete sie, er könnte ihr entgleiten – in die Vergangenheit tauchen und dort stecken bleiben.
Dann geht es plötzlich um den Volker. Keiner weiß genau, warum er mit dem Trinken anfing. Es war ja nicht so, dass alle in der LPG getrunken hätten. Eigentlich war es ihm gut ergangen. Nur mit dem Vater, dem Heinrich, hat er oft Streit gehabt. Wenn es stimmt, dass er Alfreds Sohn ist, dann wundert es mich nicht. Vielleicht hat er es gespürt, denn gesagt hat es ihm keiner. Die Lüge zerfrisst den Menschen inwendig, sagt die Oma Traudel immer. Man kann lange den Deckel draufhalten, doch irgendwann kocht es über, auch das habe ich oft von ihr gehört. Irgendwie hängt das Trinken vom Volker damit zusammen, da bin ich sicher. Sogar eine Freundin hatte er in jungen Jahren. Eine Zeit lang lebten die beiden auf dem Hof, oben in den Dachzimmern, wo jetzt der Johannes und ich wohnen. Aber zwischen dem Siegfried und dem Volker gab es auch viel Streit, und weil der Siegfried der Tüchtigere von beiden war, hat Volker irgendwann gehen müssen. Das nahm er allen übel, besonders dem Alfred, der sich damals für den Siegfried einsetzte, obwohl er sonst immer auf Volkers Seite stand. Aber es war kein Verlass auf den Volker. Wenn er trank, vergaß er die Tiere, und das tolerierte niemand.
Frieda geht jetzt rüber in die Stube. Sie mag das Thema Volker nicht, sie hat ihn eben trotzdem gern, er ist ja ihr ältester Sohn. Alfred trottet schweigend hinterher. Und jetzt sagt der Siegfried etwas, was keiner erwartet hätte. Er sagt: »Wenn ich meine Stasiakten einsehen würde, wer mich ausgehorcht hat, was glaubt ihr, welchen Namen ich da finden würde?« Er lächelt spitzbübisch und schaut in die Runde. Die Marianne schlägt die Hand vor den Mund, und Hartmut schüttelt den Kopf. Gisela schaut hin und her, und Johannes sagt: »Das kann ich mir vorstellen, Vater.«
Und weil der Volker weiß, dass es der Siegfried weiß, kommt er nicht mehr gern auf den Hof.
Dann lassen wir sie allein. Johannes nimmt meine Hand und zieht mich hinaus in den Flur und die Treppen hinauf. Er ist schon wieder ganz woanders mit den Gedanken; er hat einen Plan: Er will nach Leipzig fahren, um die Kunsthochschule zu besuchen. Zwar sind dort jetzt Semesterferien, doch irgendjemand wird schon da sein, wie er meint. Ob ich mitkommen will, hat er nicht gefragt. Das ist sein Weg, und meiner, so viel kann ich sagen, geht gerade in eine andere Richtung. Es ist zu früh, zu wissen, wohin. Ich taumele von einem Gefühlszustand zum nächsten, lebe von einem Tag zum anderen, ganz und gar gegenwärtig, ganz im Jetzt, und das Jetzt ist der Henner. Johannes und die Zukunft liegen im Ungewissen.
Kapitel 10
ES SIND TAGE vergangen. Trübe Tage, traurige Tage, an denen ich nichts vom Henner gehört oder gesehen habe. Nicht einmal im Laden ist er gewesen. Die Marianne sagt, er sei sicher auf Sauftour oder mit irgendeiner Frau beschäftigt. Das macht mich rasend. Andererseits bin ich es, die antworten muss. »Komm und bleib
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