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Irgendwann werden wir uns alles erzählen

Irgendwann werden wir uns alles erzählen

Titel: Irgendwann werden wir uns alles erzählen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniela Krien
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alles weist auf seinen Sohn Dmitri als Mörder hin. Aber mitten im größten Unglück und als ihm schon alles egal ist, zeigt Gruschenka ihm ihre Liebe. Manchmal rettet die Liebe alles.
    Bevor ich das nächste Kapitel beginne, hole ich schnell die Nachricht vom Henner hervor und lese: »Komm und bleib bei mir, nur einen Tag …« Es ist jedes Mal wie Stürzen, wenn ich seine Sätze lese, und jedes Mal möchte ich losrennen und alles zurücklassen, sogar den Johannes. Doch ich tue es nicht. In mir ist eine Ahnung, wie sie der Starez hatte, als er sich vor Dmitri verneigte. Ich weiß nicht, was es sein könnte, das zukünftige Leid vom Henner, doch ich befürchte, es hat auch mit mir zu tun.
    Unten sitzen sie am Frühstückstisch, alle miteinander. Die Kinder hat der Hof verschluckt. Sie tummeln sich im Stall und auf den Wiesen und tauchen nur noch zu den Essenszeiten auf. Mir ist gar nicht nach Essen zumute, der Henner füllt mich gänzlich aus; da ist kein Platz für anderes. Johannes erzählt gerade, wie er mich kennenlernte: in P. auf der ersten Demonstration. Es waren Tausende Menschen, der Zug war so lang, wir konnten keinen Anfang und kein Ende sehen. Wir zogen am großen Kaufhaus vorbei und weiter Richtung Markt, wir wurden von der Strömung mitgerissen. »Wir sind das Volk! Wir sind das Volk!«, schrien die Massen, und ich hatte so ein ähnliches Gefühl wie damals in der Pionierrepublik, nur dort war es noch stärker gewesen, wahrscheinlich wegen der Fackeln und Lieder.
    Katja und ich waren schon müde vom Skandieren und wollten gerade zum Eisladen abbiegen, als wir plötzlich einen Wasserwerfer neben uns bemerkten. Die Leute fingen an zu schreien, einige skandierten weiter: »Wir sind das Volk!«, und irgendwie verlor ich Katja und sie mich. Neben mir ging eine Frau mit Kinderwagen. Überall waren Polizisten mit Maschinengewehren. Sie waren auf uns gerichtet. Dann kam der Wasserstrahl. Die Frau mit dem Baby strauchelte, der Wagen kippte zur Seite und rutschte in die Menschenmenge. Einer hielt ihn auf und nahm das Kind heraus. Das Baby brüllte wie am Spieß, die Frau lag am Boden und schrie und schrie, und als der Mann sie packte und mit sich zog, glitt ihm das Baby fast aus den Armen. Ich hielt mir die Hände vors Gesicht und rührte mich nicht. Alles rannte durcheinander, doch keiner lief davon. Sie würden schießen, dachte ich. Sie würden einfach draufhalten, und wer vorne stand, den würde es erwischen. Ich stand vorne. Katja war nicht wieder aufgetaucht. Dafür war jetzt der Johannes neben mir – wir sahen uns ja schon seit Kinderzeiten – und zog mich weg, durch die Menge hindurch, weiter in eine Seitenstraße. Wir rannten und rannten, ohne zu wissen wohin, und hinter uns erhob sich ein großer Tumult. Irgendetwas war passiert, doch wir sahen es nicht mehr. Er zerrte mich in einen Hauseingang, stieß die Tür auf und drückte mich hinein. Und dort hat er mich das erste Mal geküsst. Das war im Oktober 1989. Wir hatten damals das Gefühl, mit dem Leben davongekommen zu sein, obwohl sich im Nachhinein herausstellte, dass gar nichts passiert war.
    Die Gisela guckt, als hätte Johannes ein Märchen erzählt, so erstaunt und auch ein bisschen ungläubig. Ich schätze, sie hält das alles für übertrieben. Doch da irrt sie sich. Der Johannes ist ein Leisetreter, er hat die Dramatik der Geschichte gar nicht richtig zum Ausdruck gebracht. Doch für die Gisela reicht es offensichtlich. Ich frage mich, ob Hartmut ihr eigentlich die Wahrheit vom Gefängnis erzählt hat, wo sie doch hiervon schon so schockiert ist. Wie sie ihn zum Beispiel mit hohem Fieber und einer Lungenentzündung drei Tage liegen ließen, bevor sie einen Arzt holten; das hat er dem Siegfried erzählt, der wiederum der Marianne, die dem Johannes, und jetzt weiß ich es auch. Aber bei der Gisela bin ich mir nicht so sicher. Hat Hartmut ihr das verschweigen können? Und wenn ja, warum?
    Doch da denke ich an mein eigenes Geheimnis und begreife, es gibt Dinge, die können gleich erzählt werden, andere haben ihre eigene Zeit, und manche sind unsagbar.
    Natürlich ging die Geschichte noch weiter. Irgendwann haben wir unseren langen Nachhauseweg angetreten und am Bahnhof auch Katja wiedergefunden. Sie weinte und fiel mir um den Hals, als sie mich sah. Dann fuhren wir eine Dreiviertelstunde mit dem Zug und liefen zurück in unsere Dörfer. Ich ging mit dem Johannes weiter zum Brendel-Hof, dort in die Scheune mit dem Heu, wo wir uns lange

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