Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Irgendwann werden wir uns alles erzählen

Irgendwann werden wir uns alles erzählen

Titel: Irgendwann werden wir uns alles erzählen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniela Krien
Vom Netzwerk:
anstößigen Dinge.
    Meine Briefe, die ich nach Hause schrieb und die immer den gleichen Inhalt hatten, bekam ich geöffnet zurück, und dann wurde ich zum Pionierleiter ins Büro gerufen. Da saßen drei Leute vor mir, und einer las mir meine Briefe vor. Schon nach dem ersten Brief hatte ich Mühe, meine Gedanken zusammenzuhalten, und versuchte herauszufinden, ob dort draußen auf dem Weg meine bisher einzige Freundin Silke entlangging. Es war schwer zu sagen, sie trug ja das Gleiche wie wir alle. Nun wurde ich ermahnt zuzuhören, doch ich kannte ja die immer gleichen Zeilen: »Liebe Mama, das Lager ist wie ein Gefängnis. Bitte hol mich nach Hause. Ich kann hier nicht bleiben. Ich bin so traurig und weine viel, vor allem nachts. Deine Maria.« Sie sagten mir dann, wenn ich so etwas noch einmal schriebe, bekämen ich und meine Eltern einen Ärger, den ich mir noch gar nicht vorstellen könnte.
    Ich hatte eigentlich keine Angst mehr. Schlimmer konnte es nicht werden, dachte ich. Und das wurde es auch nicht. Meine Mutter hat die Briefe nie erhalten, und niemand kam mich holen. Aber nach etwa drei Wochen der insgesamt sechs wollte ich auch gar nicht mehr weg. Es hatte einen Fackelzug gegeben. Wir alle, Hunderte Kinder, sind durch ein links und rechts wogendes Feuermeer marschiert und haben Der kleine Trompeter und Die Moorsoldaten gesungen. Die Fackeln leuchteten uns den Weg über das Lagergelände bis auf einen großen Appellplatz. Dort hielt der Zug, und wir sangen zum Abschluss die letzte Strophe der Moorsoldaten .
    Das war der Moment meiner inneren Wende, tatsächlich brach etwas in mir, ein Widerstand löste sich. Ich fühlte mich eins mit den anderen, stark und unbesiegbar. Das war ein erhebender und unbeschreiblicher Moment und gleichzeitig einer der unheimlichsten Augenblicke des ganzen Aufenthalts.
    Und als mich Gisela darum bittet, die Lieder einmal vorzusingen, und ich nicht ohne einen schönen Schauder Die Moorsoldaten anstimme, da dauert es nicht lange, bis Siegfried, Hartmut, Marianne, Alfred und Frieda mit einstimmen, genau in dieser Reihenfolge. Wohin auch das Auge blicket, Moor und Heide nur ringsum. Vogelsang uns nicht erquicket, Eichen stehen kahl und krumm. Wir sind die Moorsoldaten und ziehen mit dem Spaten ins Moor!
    Marianne summt mit ihrer klaren Stimme die Melodie, weil sie den Text nicht kann, und bei der letzten Strophe, als es heißt: Doch für uns gibt es kein Klagen, ewig kann’s nicht Winter sein. Einmal werden froh wir sagen: Heimat, du bist wieder mein, ist der Siegfried nicht mehr zu halten. Er schmettert die letzten Worte über unsere Köpfe hinweg, sodass wir alle verstummen und die Gisela sich mit beiden Händen am Stuhl festklammert. Dann schweigen wir, und ich schäme mich ein wenig für den Siegfried. Jeder von uns hat jetzt seine eigenen Bilder im Kopf, und als die Stille zu lange währt, erzähle ich den Schluss meiner Geschichte: Wie ich nach sechs Wochen wieder nach Hause kam und meine Mutter mich weinend fragte: »Was haben sie nur mit dir gemacht?«, weil ich ihr am Esstisch russische Kampflieder vorsang. Und wie ich weinte und Sehnsucht hatte nach den Kameradinnen. Es dauerte eine Weile, bis ich wieder ganz angekommen war und meine Sehnsucht nach dem Lagerleben schließlich in eine Abneigung gegen alles Kollektive umschlug.
    So hatte sich das der Siegfried nicht vorgestellt. Er schaut mich jetzt ein wenig mitleidig an. Gisela findet das alles »barbarisch«, wie bei den Nazis, Hartmut stimmt ihr zu, obwohl er gerade noch inbrünstig mitgesungen hat. »Schweine!«, sagt er immer wieder. »Elende Schweinehunde! Dort haben sie die Kinder gebrochen.« Dann tut Frieda einen Nachtisch auf. Tiramisu. Etwas, was wir noch nie gegessen haben. Schon der Name klingt vielversprechend. Gisela hat es zubereitet, die Ingredienzien hat sie mitgebracht. Ich überlege, ob der Hartmut recht hat, ob sie mich wirklich gebrochen haben, doch ich glaube, er übertreibt.
    Keiner von uns hat bemerkt, wie der Johannes uns fotografierte, als wir sangen. Ich werde noch heute Abend auf den Bildern sehen, wie der Blick vom Alfred auf mir ruhte. Spät, spät gehen wir schlafen, und Johannes hält mich sanft im Arm.
    Drüben, im anderen Zimmer, liegt meine Tasche und darin ein neuer Zettel, den ich vom Henner mitbekommen habe. Ich hebe ihn mir für morgen auf.

Kapitel 9
    ICH HABE DIE Karamasows vernachlässigt. Gerade jetzt, wo etwas Schreckliches geschehen ist. Fjodor Karamasow ist tot. Umgebracht, und

Weitere Kostenlose Bücher