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Irgendwann werden wir uns alles erzählen

Irgendwann werden wir uns alles erzählen

Titel: Irgendwann werden wir uns alles erzählen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniela Krien
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hilflosen Handbewegung die Treppen hinuntersteigen und schließt hinter mir die Tür. Dann gehe ich rüber zum Henner.
    *
    Drinnen in der Küche ist alles aufgeräumt. Nichts erinnert mehr an die letzte Nacht. Er sitzt am Tisch und isst. Als ich hereinkomme, rührt er sich nicht. Nicht einmal den Blick hebt er. Ich gehe nahezu geräuschlos an ihm vorbei und bringe meine Tasche in die Kammer nebenan. Dann nehme ich einen Stuhl und setze mich neben ihn. Er beobachtet mich aus den Augenwinkeln und isst unbeirrt weiter.
    Er soll zuerst reden. Auch ich kann schweigen.
    Wie lange wir so sitzen? Ich weiß es nicht.
    Sehr lang.
    In diesem Haus fällt es mir schwer, die Zeit zu schätzen. Manchmal sind Stunden Tage, und dann wieder vergehen sie wie Minuten. Als aber endlos lang nichts geschieht und der Henner schon längst alles aufgegessen hat, lege ich ihm meine Hand an die Wange, und er stöhnt und senkt den Blick. »Ich hätte ihn umgebracht«, sagt er, und als ich dazu schweige, fügt er hinzu: »Und mich auch!« Das sind Worte, die stehen zwischen uns wie Wände.
    Ich weiß nicht, was nun richtig ist, doch ich glaube, es stimmt, was er da sagt. Dann redet er weiter: »Du brauchst mich nicht, Maria. Du bist siebzehn! – Mein Gott! – Was willst du hier?« Jetzt sieht er mich lange an. Ich muss nicht überlegen, dennoch zögere ich, bevor ich sage: »Ich will dich! – Ich bin alt genug, die Oma Traudel war auch erst siebzehn, du kannst mich jetzt nicht einfach fortschicken.«
    Sein Blick ruht auf mir. Ich hatte Spott erwartet, doch nichts …
    »Ich schicke dich nicht fort«, sagt er, »Ich will dir nur sagen: Du siehst, wie es hier ist. Du hast gesehen, wie ich bin. Es gibt nichts, was ich dir bieten könnte, nichts, gar nichts.« Während er spricht, macht seine rechte Hand eine wegwerfende Bewegung. Die trifft mich unerwartet hart. Ich schlucke mehrmals nacheinander, bevor ich sagen kann: »Das ist mir egal, ich will einfach in deiner Nähe sein. – Nicht mehr.« Er lächelt müde und zieht mich träge zu sich herüber. Ganz eingesunken sitzen wir, stiller noch als die Stille auf dem Hof, und lange. Sehr lange.
    Den Rest des Tages verbringen wir im Bett. Wir reden wenig, berühren uns immerzu, und er liest mir das letzte Kapitel aus den Karamasows vor. Da sagt Alexej an einer Stelle: »Unbedingt werden wir auferstehen, unbedingt werden wir uns wiedersehen und heiter, freudig einander alles erzählen, was war.« Das will ich gleich noch einmal von ihm hören; es ist so hoffnungsvoll und schön, und der Henner freut sich über meine Freude.

Kapitel 20
    AM ABEND BIN ich zurück. Ich gebe mich schweigsam, sage, ich hätte noch Hausaufgaben zu erledigen, und gehe gleich die Treppen in unsere Zimmer hinauf. In einer Dachkammer daneben hat die Selma Junge gekriegt. Fünf kleine Katzenjungen von irgendeinem Strolch aus dem Dorf. Johannes hält auch das für die Ewigkeit fest. Ich weiß nicht, wie viele Fotos er schon gemacht hat, aber Hunderte sind es sicher. Überall liegen sie herum und erinnern mich an die vergehende Zeit. Seine ersten Bilder kommen mir schon alt vor. Ich sehe jetzt ganz anders aus. Auch ihm fällt das auf, aber nur wegen der Bilder. Wenn ich vor ihm stehe, scheint er nichts davon zu sehen.
    Mit dem Henner habe ich ausgemacht, er solle mich immer am Dienstag und Donnerstag von der Schule abholen. Dem Johannes werde ich sagen, ich ginge mit den Mädchen aus der Klasse in die Stadt bummeln oder in den Park zum Eisessen. Der Samstag wird mein Muttertag. Morgens gehe ich tatsächlich zu ihr, doch noch vor dem Mittagessen laufe ich den Weg durch den Wald zum Henner und bleibe über Nacht.
    Dann geht der September mit seinen schönen Spätsommertagen leicht dahin. Der Henner und ich haben uns eingefunden in den Rhythmus unserer Lüge und unserer Liebe. Wir sehen uns regelmäßig, und wenn wir mit dem Auto an dem Weg vorbeifahren, der zu den Brendels führt, dann verstecke ich mich auf der Rücksitzbank, indem ich mich flach hinlege.
    Der Zauber des Anfangs ist verflogen; unsere Begegnungen haben nun die Ruhe der Gewohnheit angenommen. Er fällt nicht mehr sofort über mich her, und manchmal reden wir nur. Die Angst vor dem Entdecktwerden ist der Erkenntnis gewichen, dass die Wahrheit nicht immer ans Licht kommt. Da frage ich mich, was sonst noch alles im Verborgenen stattfindet, von dem ich nie erfahren werde.
    Beim Lindenwirt arbeite ich nicht mehr. Der hätte seelenruhig abgewartet, wie der Henner mich

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