Irgendwann werden wir uns alles erzählen
vergewaltigt. Als ich dem Henner das erzähle, wird er ganz mürrisch und sagt: »Das denkt dieser Lump also von mir.« Aber eigentlich hat es ihn noch nie gekümmert, was andere Leute über ihn sagen.
Er scheint mir ganz aufgeräumt zu sein, setzt einiges auf dem Hof instand, repariert Zäune, pflegt die Pferde und plant Neuerungen im Haus. Es stimmt nicht, dass er das Wasser noch immer aus dem Brunnen holt; das tut er nur im Sommer. Er hat eine ganz normale Wasserleitung wie alle anderen auch und sogar einen Boiler, der das Wasser erhitzt.
Ich helfe ihm, Ordnung im Haus zu schaffen, putze Fenster und wasche Gardinen, schrubbe die Böden und befreie Schränke und Regale vom Staub vieler Jahre. Er staunt, als er sieht, was ich schaffe. Auch lobt er mich über die Maßen. Da werde ich ganz rot vor Freude.
Man könnte so leben, denke ich.
Von den politischen Ereignissen hören wir hier nichts. Es ist wahr, er besitzt weder einen Fernseher noch ein Radio. Nur einen Plattenspieler, aber auch den brauchen wir nicht. Unter der Woche haben wir nicht genug Zeit dafür, und an unserem Samstag lesen wir uns aus Büchern vor. Ich glaube, am Henner ist ein Künstler verloren gegangen. Er lacht, wenn ich das sage, aber es ist ein bitteres Lachen. Kein Wunder, dass er keine Freunde im Dorf hat. Sie mögen keine Sonderlinge und erst recht nicht, wenn sie viele Bücher lesen. Das hat man ihm nur so lange nachgesehen, wie er die Hofarbeit nicht vernachlässigte. Es waren ja früher einmal mehr Tiere gewesen, ein maximaler Tierbestand für das wenige Land – Rinder, Schweine, Hühner und die Pferde, und die sind ja auch geblieben. Die Futtermittel mussten gekauft werden; die wenigen Pachtflächen reichten nicht für die Mengen an Heu und Kraftfutter.
Als die Mutter vom Henner gestorben ist, das war 1965, hatten sein Vater und die Großeltern den Hof noch gut im Griff. Acht Jahre später starb der Großvater und 1980 auch der Vater. Der Henner war mit achtzehn in die LPG gegangen, in die Rinderzucht. Nach der Arbeit ging es zu Hause weiter. Die LPG war nicht das Rechte für ihn gewesen, dauernd hatte er Ärger mit den anderen, war eigensinnig und störrisch und wollte eigentlich nur den häuslichen Hof bestellen. Und als die Großmutter dann allein auf dem Hof war, hat er das auch getan. Hat sich geschunden, so ganz alleine. Am Ende war es zu viel geworden; nach und nach schaffte er die Tiere ab, bis auf die Pferde. An denen hing er, mit denen kannte er sich am besten aus. Mit dem Geld, das er für den Viehbestand des Hofes bekam, schaffte er neue Pferde an, gute Zuchtpferde, und nach ein paar Jahren war sein Stall in der ganzen Gegend bekannt geworden. Gegen die Pferde aus dem Westen sollen sie angeblich wertlos sein, aber das glaubt keiner hier.
Die Geschichte mit der Ursula ist 1974 passiert, ein Jahr nachdem ich geboren wurde. Der Henner saß im Gefängnis, während meine Mutter mir die Brust gab. Das stelle ich mir oft vor.
Es gibt viel Trennendes zwischen uns und einige Gemeinsamkeiten, die ich lieber höre. Wie ich war auch der Henner Pionier, trat aber weder in die Freie Deutsche Jugend ein, noch ging er zur Jugendweihe. Man kann nicht sagen, dass sie Staatsfeinde waren, die Henners, sie waren nicht einmal politisch. Sie wollten nur in Ruhe den Hof führen. Na ja, die Mutter vom Henner hat die Russen gehasst, aber das hatte ja andere Gründe. Ich glaube, es war ihnen im Grunde egal, in welchem System sie lebten. Sie wollten einfach Bauern sein und sich nicht darum kümmern, wie der Sohn einmal pro Woche in die Stadt ins Pionierhaus kam, um dort Gott-weiß-was-Unnützes zu tun.
Die Jugendweihe hat die Großmutter verhindert. Sie war katholisch und bestand darauf, dass der Henner zumindest evangelisch konfirmiert wurde. Die nächste katholische Gemeinde war einfach zu weit weg. Er hätte natürlich beides haben können, Jugendweihe und Konfirmation, aber die Großmutter sagte, man könne nicht Gott und dem Götzen dienen. In diesen Dingen war sie stur. Und die FDJ hätte dem Jungen die Zeit weggefressen; da war sich die Familie einig, und das war begreiflich; es gab ja immer wieder mal Veranstaltungen und Versammlungen, Brigadeeinsätze oder Freizeitlager. Der Hof war nicht großzügig mit freier Zeit.
Auch ich bin nicht in die FDJ eingetreten. Das hatte vor allem mit David zu tun. Die Bedingungen seiner Zuneigung waren eindeutig: Eine Mitläuferin interessierte ihn nicht, obwohl er sich später in eine solche verliebte
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