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Irgendwann werden wir uns alles erzählen

Irgendwann werden wir uns alles erzählen

Titel: Irgendwann werden wir uns alles erzählen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniela Krien
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kenne ihn gar nicht mehr. Ich versuche mich loszumachen, aber er lässt mich nicht. Er stößt das Tor mit einem Fußtritt auf und zieht mich mit. Drinnen gibt er sogar den Hunden einen Tritt, als sie ihn begrüßen, und dann schiebt er mich weg. Mein Handgelenk brennt höllisch. Er rennt ins Haus und schmeißt irgendwelche Gegenstände umher. Der Topf mit dem Essen vom Mittag fliegt gegen die Wand, auch einen Stuhl zerschlägt er. Ich bleibe an der Tür stehen und sehe ihm zu. Ich habe keine Angst vor ihm. Nach ein paar Minuten ist das Schlimmste vorbei, und die Küche sieht furchtbar aus. »Dieses elende Schwein, diese Sau, diese Missgeburt …«, stößt er noch mehrmals heraus, doch auch dieser letzte Ausbruch ebbt langsam ab. Als er endlich so weit ist, sich zu setzen, gehe ich zum Kühlschrank und hole den Wodka, der ihm niemals ausgeht, nehme zwei Gläser und fülle sie zur Hälfte. Er trinkt langsam und sieht mich nicht an. Er trinkt auch mein Glas aus. Ich stehe auf und stelle mich hinter ihn, dann lege ich ihm meine Hände auf die Schläfen und lehne meinen Kopf an seinen. Er ist noch immer wie erstarrt, als bemerkte er mich gar nicht. Sein Kopf hängt nach vorn, die Schultern haben keine Spannung, er ist ganz in sich gesunken.
    Ich stehe dort so lange, bis ich nicht mehr kann, dann sage ich zu ihm: »Ich komme morgen wieder. Heute muss ich nach Hause, Johannes wartet. Aber ich komme morgen wieder.« Ich betone die Worte überdeutlich, weil ich glaube, er hört mich nicht. Morgen ist Sonntag. Ich habe nicht die geringste Ahnung, welchen Grund ich finden sollte, am Sonntag nicht auf dem Brendel-Hof zu bleiben, doch das kümmert mich nicht. Wenn er mich je gebraucht hat, dann jetzt. Er nickt, und ich bitte ihn, sich hinzulegen. Tatsächlich steht er auf und wankt hinüber in die kleine Stube. Als er liegt, setze ich mich auf die Bettkante und lege meine Hand auf seinen Kopf. Er nimmt sie dort weg und hält sie lange fest. Und dann gehe ich.
    Am nächsten Morgen – ich habe länger als sonst geschlafen und komme spät zum Frühstück herunter – wissen sie schon alles. Von dem Trinkgelage über den Streit und mein Eingreifen und auch, wie ich mit ihm mitgegangen bin. Die Gabi vom Lindenwirt war hier gewesen, um Milch und Eier zu holen, und hat alles erzählt.
    Johannes fragt, ob ich verrückt geworden sei, mitten in der Nacht mit dem Henner, von dem doch jeder weiß, wie ausfällig der werden kann, mit dem brutalen Henner also, nach Hause zu gehen. »Nach Hause …«, wiederholt er und schlägt sich die Hand vor die Stirn. Ich weiß kaum, was ich sagen soll, stammele herum, sage, dass ich das Gefühl gehabt hätte, er würde sich von mir beruhigen lassen, und wie ich Angst hatte, es würde etwas viel Schlimmeres passieren, wenn man ihn allein ließe. Johannes unterbricht mich und sagt: »Das ist es eben. Es hätte etwas viel, viel Schlimmeres passieren können – du und der Henner, allein auf dem Hof, in dem Zustand, in dem der war. Du bist so naiv, Maria, das geht mir so auf die Nerven.« Ich versuche mich zu rechtfertigen, aber es hat keinen Sinn. Alle sind seiner Meinung. Ich könne von Glück sagen, dass er mich nicht »geschändet« habe, das sagt die Marianne wörtlich und mehrmals hintereinander. Anscheinend mag sie das Wort, oder vielleicht ist sie eifersüchtig und würde auch gern mal von ihm »geschändet« werden. Böse Gedanken habe ich, wenn sie so auf mir herumhacken. Was ich überhaupt so lang bei dem gemacht habe, der Lindenwirt habe gesagt, ich sei lange dort gewesen, er habe es genau beobachtet, mindestens eine Stunde sei ich dort geblieben. Noch ein bisschen später, und er hätte die Polizei gerufen. In einer Stunde, sage ich, hätte er mich dreimal vergewaltigen können. Da hätte auch die Polizei nichts mehr machen können. Der Lindenwirt ist ab heute für mich gestorben, so viel steht fest.
    Alfred und Frieda schweigen, aber ich sehe, wie der Alfred lächelt. Am liebsten möchte ich ihm seine angebissene Semmel in den Mund stopfen und gleich noch eine hinterher. Nur der Siegfried ist recht besonnen und sagt: »So was würde er nicht machen, der Henner, so einer ist der nicht«, und dafür bin ich ihm unendlich dankbar.
    Nach dem Frühstück hole ich ein paar Sachen und sage, ich würde zur Mutter gehen. Johannes will mich fahren, er ist nun nicht mehr wütend, aber ich bin es jetzt, weil er mich vor den Eltern so zurechtgestutzt hat. Er lässt mich mit einem Schulterzucken und einer

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