Irgendwann werden wir uns alles erzählen
als er das sagt. Es waren einige Tage, und es hätten noch mehr werden können, wenn er nicht ebendiese Straße entlanggefahren wäre. Es ist nicht nur Verlangen, es ist Hunger, so sagt er es selbst. Und jedes Mal, wenn ihn dieser Hunger treibt und er mich so sehr will, dass seine Hände und seine Worte grobe Dinge tun und sagen, dauert es nur wenige Augenblicke, bis meine eigene Lust die seine einholt. Und weil er das weiß, achtet er nicht auf meinen nutzlosen Widerstand, den ich nur deswegen zeige, weil er mir anständig erscheint, und manchmal, weil es ihn wild macht.
Niemals würde ich dem Johannes zugestehen, was ich dem Henner selbstverständlich gebe. Ich kann nicht sicher sagen, warum. Es passt nicht zum Johannes, so zu sein; und auch ich bin nicht so in seiner Nähe. Die Leidenschaft für seine Fotos ist größer als die für mich. Dennoch liebt er mich.
Beim Henner ist das andersherum. Sein Begehren ist absolut. Danach kommt alles andere. Ich sehe immer gleich, wie sehr er mich will, in seinen Augen und dem Ausdruck seines Gesichts. Seine Grobheit ist ebenso natürlich, wie es die Sanftheit vom Johannes ist. Für mich hat sie ihren Schrecken verloren. Ich weiß nun, sie gehört zu ihm; es ist nicht seine Art, mäßig zu lieben.
Später schenkt er mir ein Buch, das seiner Mutter gehörte. Es sind die Gedichte, unter denen ich dieses eine las, das mich nicht mehr losgelassen hat. Selten habe ich mich über ein Geschenk so gefreut. Das Buch ist alt und schön gebunden und riecht nach Hof und Henner. Ich streiche immer wieder über den Einband. Drinnen steht der Name der Mutter. Sie hat ihren Mädchennamen hineingeschrieben, Helene Mannsfeld. Ich durchkreuze ihn vorsichtig und schreibe meinen eigenen darunter. Er lächelt und sagt, es sei gut aufgehoben bei mir, ich würde diese Verse verstehen, ich würde schon wissen, die Wanderer ohne Ziele …
Dann muss ich gehen; es ist schon spät.
*
Kurz vor sieben sitze ich beim Essen mit der Familie Brendel.
Alfred sitzt mir gegenüber und fragt, wie es beim Henner war, er habe mich gar nicht reiten sehen, obwohl er auf den Wiesen am Bahndamm gewesen sei und hinübersehen konnte. Ich antworte ihm, ich sei in den Wald geritten, doch er will wissen, ob es die Jella war. Ich wittere die Falle und sage, nein, es sei der Artus gewesen, ich hätte ihn direkt aus dem Stall geholt und nicht von der Koppel und sei hinten durch den Mais bis in den Wald hinein geritten. »So, so«, sagt da der Alfred, »so, so, da kann sie jetzt schon den jungen Hengst reiten, wo sie doch vor Kurzem noch mit der lahmen Stute Probleme hatte.«
Kauend nicke ich ihm zu und antworte: »Ich hab ja auch geübt.«
»So, so«, murmelt er weiter, »so, so …« Außer Frieda, die mir einen fragenden Blick zuwirft, hat keiner den scharfen Ton in seiner Stimme bemerkt. Ich nehme mir noch ein Stück vom kalten Braten und lächle ihn an.
In den Abendstunden lüge ich leichter. Morgens, wenn ein kühles Licht die Gesichter schattenlos ausleuchtet, dann geht es mir oft elend. In der Klarheit dieser frühen Stunden scheint mein Handeln schwerer zu wiegen, das Gewissen stärker zu sein, die Moral ganz wach. Später am Tag verschwindet mein sittliches Gefühl. In den Nächten fehlt es gänzlich.
*
Dann fragt mich der Lindenwirt, ob ich am Wochenende einmal arbeiten könne. Der Heimatverein trifft sich, und da braucht er mehrere Bedienungen. Er hat einen hübschen kleinen Tanzsaal hinter der Gaststube – dort wird getagt. Der Heimatverein ist eine echte Herausforderung. Es beginnt immer harmlos – der Vorstand hält eine Rede auf die Schönheit der Heimat und die Bedeutung der Heimatpflege –, aber all das ist nur ein Vorwand, um schließlich hemmungslos zu trinken. Anfangs sitzen alle an ihren Plätzen und unterhalten sich mit den Tischnachbarn. Je weiter der Abend jedoch voranschreitet, desto unübersichtlicher wird es. Früher oder später sitzt niemand mehr auf seinem Platz, und weil alle Getränke auf Bierdeckeln angeschrieben werden, läuft man herum und sucht den passenden Bierdeckel zur jeweiligen Person. Manche stecken ihren Deckel in die Tasche, andere verlieren ihn; es ist zum Verzweifeln.
Viele tragen Tracht, und auch ich muss eine Tracht tragen. Die Marianne findet das ganz bezaubernd, wie sie sagt. Johannes dagegen rümpft die Nase.
Es werden Schlager gespielt und Volkslieder gesungen. Bei manchen, bei den wirklich schönen, singe ich mit, und dann kommt manchmal einer der älteren
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