Irgendwas geht immer (German Edition)
Zweifel und Anflug von Gewissensbissen beiseite und winkte Noel. Und wieder hatte er diesen Blick – diesen Blick, den er fest auf mich gerichtet hatte. Ich hielt es fast nicht aus. Ich begann die Sitzung mit der Frage, ob ihn im Augenblick irgendetwas beschäftige. Einen Moment lang schwieg er. Dann sagte er nur ein Wort.
»Nein.«
Oh Gott! Ich war eine komplette Vollidiotin und hatte mir diese peinliche Episode nur eingebildet. Am liebsten hätte ich mich vor Scham im nächsten Erdloch verkrochen. Hastig zog ich mein Top hoch. Mein Mund fühlte sich plötzlich staubtrocken an, und ich fing an, an meinem Block herumzufummeln, der natürlich prompt auf den Boden fiel, und als ich mich bückte, verrutschte mein Top, so dass man noch viel mehr von meinen Brüsten sehen konnte, und wenn ich viel mehr sage, meine ich es auch so. Also zupfte ich wieder daran herum, diesmal noch hektischer. Als ich endlich wenigstens ein Minimum an Fassung zurückerlangt hatte und es schaffte, ihm in die Augen zu sehen, hatte er wieder dieses selbstsichere, gewinnende Lächeln aufgesetzt, das ich nur zu gut kenne.
»Ich meinte, nein, mich beschäftigt nicht irgendetwas, sondern etwas ganz Konkretes. Genauer gesagt jemand. Und sonst nichts. Bitte, erlösen Sie mich von meiner Qual und sagen Sie mir, dass es Ihnen genauso geht, Mo.«
Und damit wusste ich endlich, dass ich mir all das nicht nur eingebildet hatte. Und dass er das Schönste war, das ich seit langem gesehen habe. Er war von geradezu exquisiter Schönheit. Schlagartig wurde mir wieder bewusst, wo wir waren, dass wir einander gegenüber in meinem Behandlungszimmer saßen, und wie unangemessen sich all das anfühlte. Viel eher sollten wir doch an einem malerischen Brunnen in Florenz sitzen, oder? Ich bin darauf programmiert, bei der Arbeit Professionalität auszustrahlen, insbesondere in meinem Zimmer, wo so viele Geheimnisse preisgegeben werden und mir so vieles anvertraut wird. Deshalb fuhr ich, in einem vergeblichen Versuch, so etwas wie Normalität an den Tag zu legen, automatisch fort: »Wenn ich es richtig verstehe, Noel, ist das, was Sie hier erleben … in Wahrheit … eine Übertragungsreaktion … wie sie als Erstes von Freud beschrieben wurde … Wie Sie wissen, steht sie für die unterbewusste Neuausrichtung der Gefühle eines Menschen auf einen anderen … sehr häufig fälschlicherweise auf den behandelnden Therapeuten … was … äh … allem Anschein nach auch hier gerade passiert. Ich schlage vor …«
»Nun, wenn dies hier der Fall wäre – und nur fürs Protokoll, ich bin davon keineswegs überzeugt –, aber okay, wenn dies hier der Fall wäre, erlebe ich dann nicht das Schwesterphänomen, sprich die Gegenübertragung … bei der, soweit ich weiß, die Gefühlslage des Patienten ganz bewusst vom Therapeuten widergespiegelt wird … oder auch nicht bewusst. Ein hohes Maß an Empathie kann hervorrufen, dass der Therapeut ein Gefühl der … Liebe für den Patienten entwickelt.«
Da! Er hatte es ausgesprochen. Liebe.
Einfach so.
Das Wort traf mich mitten ins Mark. Und auf einen Schlag war die sorgsam gewahrte Balance zwischen meinen intellektuellen Fähigkeiten und meinen unleugbaren animalischen Begehrlichkeiten jäh zerstört. Ich war ihm restlos verfallen.
»Noel, wir können hier nicht weitermachen«, sagte ich. Worauf er meinte: »Nein, das ist mir klar. Aber wo dann? Sag mir, wann und wo. Bitte!«
»Lass mich nachdenken.«
Und genau das tue ich jetzt.
FÜNFZIG
OSCAR
Leider konnte unser geschätzter Hargreaves heute nicht an unserem allwöchentlichen Treffen teilnehmen. Er ist in Reading, um sich an der Vorhaut operieren zu lassen. Er behauptet, an einer Erkrankung namens Phimose zu leiden, weswegen sich seine Vorhaut nicht richtig zurückschieben lässt, doch ich weiß, dass das nicht stimmt. Ich erinnere mich noch ganz genau daran, dass sie, als wir uns im Zuge unseres Eröffnungstreffens unsere »Ausstattung« gezeigt haben, völlig intakt aussah. Stattdessen hat er sich unter Garantie von Bailey Blödmanns kranken Lobgesängen auf die Vorzüge eines Daseins als »helmloser Krieger« beeindrucken lassen. Es ist mir ein echtes Rätsel, wie dieser Blödmann Bailey es geschafft hat, sich die ehrenwerte Position des Schulsprechers zu erschleichen. Meiner Meinung nach wird es mindestens zehn Jahre und die besten und klügsten Schulsprecher brauchen, um die Ehre unserer Schule nach seiner Abdankung halbwegs
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