Irische Küsse
durfte sich nicht in Lebensgefahr bringen wegen eines Schatzes, den sie nicht finden würde.
„Du hast nicht viel Zeit“, schrie Ceredys ihr nach. „Die Flut beginnt zu steigen.“
Sie beachtete ihn nicht weiter, sondern ging unbeirrt auf den seltsam geformten Felsbrocken zu, der aus dem Wasser ragte. Plötzlich erkannte Ewan die Vogelform des Steins und fragte sich, was sie dort gefunden haben mochte.
Sie ging vor dem Felsbrocken in die Knie und fing an, mit den Händen im Sand zu graben. Danach steckte sie ihren Arm in eine Höhlung.
„Bist du mit Honora gelegen?“, fragte John leise.
Statt einer Entgegnung stieß Ewan ihm den linken Ellbogen mit aller Kraft in die Magengrube, worauf er ein scharfes Brennen an seiner Kehle verspürte. Warmes Blut tropfte auf sein Kettenhemd.
„Diese Antwort genügt mir.“ John hielt ihm die Dolchklinge unter die Nase. „Dafür sollte ich dich töten. Sie gehört mir.“
Bevor Ewan einen weiteren Versuch machen konnte, sich unter dem Baron zu befreien, stieß sie einen Triumphschrei aus. Die Flut stieg jedoch überraschend schnell, die Wellen schwappten bereits um ihre Knie.
Noch nie hatte Ewan gesehen, wie eine Flut mit solch beängstigender Geschwindigkeit stieg.
„Honora, komm sofort zurück!“, schrie er in höchster Not.
Aber sie wollte nicht hören, schaufelte stattdessen mit den Händen etwas, das sie unter dem Felsen gefunden hatte, in einen Beutel an ihrem Gürtel. Ewan traute seinen Augen nicht. Das war zu einfach. Wollte sie John überlisten und füllte den Beutel mit Sand und Steinen? Oder hatte sie tatsächlich etwas gefunden?
Honora watete durch das höher steigende Wasser. Dabei strauchelte sie immer wieder, und es bereitete ihr Mühe, sich jedes Mal wieder hochzuraffen. Die Flut ging ihr mittlerweile bis zu den Hüften.
Endlich erreichte sie das sichere Ufer. Augenblicklich eilte sie an Ewans Seite, schwer atmend und triefend nass, schlotternd vor Kälte. „Ich habe den Schatz. Nun gebt ihn frei.“
„Ich glaube dir nicht.“ John drückte die Klinge nur noch fester an Ewans Kehle. „Zeig ihn mir.“
Ewan war sich sicher, dass er im nächsten Moment sterben würde, und genauso war er davon überzeugt, dass sie nichts als Sand im Beutel hatte. Er fürchtete den Tod nicht, aber er durfte nicht zulassen, dass dieses Ungeheuer sie noch einmal in seine Gewalt bekam. Doch er wusste nicht, wie er sie retten sollte.
Ihr Zögern brachte den Baron nur noch mehr in Rage. „Zeig ihn mir!“, befahl er wutschnaubend.
Sie ließ die Schultern hängen und flüsterte mutlos: „Es tut mir leid, Ewan.“ Sie griff in den Beutel, holte eine Handvoll mit Sand verklebter Silbermünzen hervor und ließ sie durch ihre Finger zu Boden rieseln. Im gleichen Moment wich der Druck der Klinge von Ewans Kehle.
Blitzschnell packte er zu, verdrehte den Arm des Barons, bis er den Dolch fallen ließ. Knochen knackten, und John stieß einen markerschütternden Schrei aus, während er sich das Handgelenk hielt.
Ewan entriss ihr den Lederbeutel. „Nein, warte!“, protestierte Honora. Ohne auf sie zu achten, schleuderte er ihn mit der linken Hand weit ins Meer hinaus. Dann zog er sie an sich und griff nach seinem Schwert.
John starrte ihn hasserfüllt an. Anschließend rannte er los und stürzte sich in die Wellen, dem Silberschatz hinterher.
22. KAPITEL
Ewan stöhnte auf, als sie ihn umarmte. „Hilf mir mit dieser Schulter, Honora.“
Sie verzog das Gesicht, hätte sich lieber den eigenen Arm abgerissen, als ihm Schmerzen zuzufügen.
„Mach schnell!“, befahl er mit zusammengebissenen Zähnen. Er stellte sich breitbeinig vor sie hin und richtete den Blick auf John, während sie seinen Ellbogen nach hinten bog und mit einem Ruck nach vorne riss. Nichts bewegte sich. Ewan schrie, Schwindel drohte ihn zu übermannen.
„Tut mir leid“, flüsterte sie unglücklich.
„Bring es endlich hinter mich.“ Er biss sich vor Schmerzen die Lippen blutig. Honora wiederholte die Tortur, bis Ewan beinahe das Bewusstsein verlor. Endlich sprang das Gelenk mit einem dumpfen Knacken in die Schulterpfanne.
Ihr fiel ein Stein vom Herzen, als Ewan den Arm wieder vorsichtig bewegen konnte. Sie lagen einander in den Armen und beobachteten John, der in gebückter Haltung durch die Wellen watete, die Arme tief ins Wasser getaucht und suchend nach dem Silberbeutel grapschte. Die Sandbank war mittlerweile vollständig von der Flut verschluckt.
Sie streichelte Ewan zärtlich die Wange.
Weitere Kostenlose Bücher