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Irisches Tagebuch

Irisches Tagebuch

Titel: Irisches Tagebuch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Böll
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überfällt: etwas kaufen: eine Ansichtskarte, einen Kaugummi nur, einen Bleistift oder Zigaretten: etwas in die Hand bekommen, teilnehmen am Leben dieser Stadt, indem man etwas kauft — aber würde es hier in Limerick, an einem Donnerstagmorgen um halb elf, etwas zu kaufen geben? Würden wir nicht plötzlich erwachen und im Regen neben dem Auto irgendwo auf der Landstraße stehen, und Limerick würde wie eine Fata Morgana — eine Fata Morgana des Regens — verschwunden sein? So schmerzlich weiß waren die Milchflaschen — weniger weiß die kreischenden Möwen.
    Das alte Limerick verhält sich zum neuen wie die Ile de la Cité zum übrigen Paris, wobei das Verhältnis des alten Limerick zur Ile de la Cité etwa 1:3, das des neuen Limerick zu Paris 1:200 sein mag: Dänen, Normannen, spät erst die Iren haben diese schöne und düstere Shannoninsel besetzt: graue Brücken verbinden sie mit den Ufern, grau wälzt sich der Shannon, und vorne, wo die Brücke aufs Land stößt, hat man einem Stein ein Denkmal oder: einen Stein auf einen Denkmalsockel gesetzt. An diesem Stein wurde den Iren Freiheit der Religionsausübung geschworen, ein Vertrag geschlossen, der später vom englischen Parlament widerrufen wurde, und so hat Limerick den Beinamen: Stadt des gebrochenen Vertrages.
    In Dublin hatte uns jemand gesagt: »Limerick ist die frommste Stadt der Welt .« Wir hätten also nur auf den Kalender zu schauen brauchen, um zu wissen, warum die Straßen so verlassen dalagen, die Milchflaschen ungeöffnet waren, die Läden leer: Limerick war in der Kirche; donnerstags morgens gegen elf. Plötzlich, noch bevor wir das Zentrum des modernen Limerick erreicht hatten, öffneten sich die Kirchentüren, füllten sich die Straßen, wurden die Milchflaschen vor den Türen weggenommen. Es war wie eine Eroberung: die Limericker nahmen ihre Stadt ein. Sogar das Postamt wurde geöffnet, und die Bank öffnete ihre Schalter. Beunruhigend normal schien alles, nahe und menschlich, wo es vor fünf Minuten noch schien, als spazierten wir durch eine verlassene mittelalterliche Stadt.
    Wir kauften verschiedenes, um uns der Existenz dieser Stadt zu versichern: Zigaretten, Seife, Ansichtskarten und ein Puzzle-Spiel. Wir rauchten die Zigaretten, rochen an der Seife, beschrieben die Ansichtskarten, verpackten das Puzzle-Spiel und gingen fröhlich zum Postamt. Hier freilich gab es eine leichte Stockung: das oberste Postfräulein war noch nicht aus der Kirche zurück, die Untergebene konnte nicht klären, was zu klären war: was kostet eine Drucksache (das Puzzle-Spiel) von 250 Gramm nach Deutschland? Hilfesuchend blickte das Fräulein zum Muttergottesbild, vor dem die Kerze flackerte; aber Maria schwieg, sie lächelte nur, wie sie schon seit vierhundert Jahren lächelt, und das Lächeln hieß: Geduld. Merkwürdige Gewichtsteine kamen zutage, eine merkwürdige Waage, gift
    grüne Zollformulare wurden vor uns ausgebreitet, Kataloge geöffnet und geschlossen, aber die einzige Lösung blieb: Geduld. Wir übten sie. Wer schickt schon im Oktober ein Puzzle-Spiel als Drucksache von Limerick nach Germany? Wer weiß nicht, daß das Rosenkranzfest zwar kein ganzer, aber mehr als ein halber Feiertag ist?
    Später freilich, als das Puzzle-Spiel längst im Briefkasten lag, sahen wir den Skeptizismus, der in harten und traurigen Augen blühte: Düsternis in blauen Augen leuchtend: in den Augen der Zigeunerin, die Heiligenbilder auf der Straße verkaufte, und in den Augen der Managerin im Hotel, in den Augen des Taxichauffeurs: Dornen um die Rose herum, Pfeile im Herzen der frommsten Stadt der Welt.
    Limerick am Abend
    Entjungfert, ihres Siegels beraubt waren die Milchflaschen; grau, leer, schmutzig standen sie vor Türen und auf Fensterbänken, warteten traurig auf den Morgen, an dem sie durch ihre frischen, strahlenden Schwestern ersetzt werden würden, und die Möwen waren nicht weiß genug, das engelhafte Strahlen der unschuldigen Milchflaschen zu ersetzen: die Möwen sausten auf dem Shannon dahin, der, zwischen die Mauern gepreßt , hier auf zweihundert Metern sein Tempo beschleunigt; saurer, graugrüner Tang bedeckte die Mauern; es war Ebbe, und es wirkte fast, als habe Alt-Limerick sich auf eine obszöne Weise entblößt, sein Kleid gehoben, Partien gezeigt, die das Wasser sonst bedeckte; auch der Abfall wartete darauf, von der Flut hinweggespült zu werden; spärliches Licht brannte in Wettbüros, Trunkene taumelten durch die Gosse, und die Kinder, die

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