Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Irisches Tagebuch

Irisches Tagebuch

Titel: Irisches Tagebuch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Böll
Vom Netzwerk:
er ?« fragte ich leise.
    »Wer?«
    »Der, dem die Milch gehört. Schläft er noch ?«
    »Nein«, sagte sie leise, »er ist heute ausgewandert .«
    »Und hat die Milch stehenlassen ?«
    »Ja.«
    »Und das Licht brennen lassen?«
    »Brennt es noch ?«
    »Sehen Sie denn nicht ?«
    Ich beugte mich vor, nahe an den gelben Spalt in der Tür, und blickte nach drinnen, wo in einer winzigen Diele noch ein Handtuch an einer Tür hing und ein Hut an der Garderobe, wo ein schmutziger Teller mit Kartoffelresten auf dem Boden stand.
    »Tatsächlich, er hat’s Licht brennen lassen, aber wenn schon: nach Australien werden die ihm die Rechnung ja nicht nachschicken .«
    »Nach Australien?«
    »Ja.«
    »Und die Milchrechnung?«
    »Hat er auch nicht bezahlt .«
    Schon schmolz das Weiß der Zigarette auf ihre dunklen Lippen zu, und sie schlurfte in ihre Haustür
    zurück. »Na ja«, sagte sie, »das Licht hätte er ja ausmachen können .«
    Limerick schlief, unter tausend Rosenkränzen, unter Flüchen, schwamm in dunklem Bier dahin; von einer einzigen schneeweißen Milchflasche bewacht, träumte es von Purpurwolke und dem purpurnen Herzen Jesu.

8 Als Gott die Zeit machte...
    Daß der Gottesdienst erst beginnen kann, wenn der Pfarrer erscheint, ist einleuchtend; daß aber das Kino erst beginnt, wenn alle Priester, die ansässigen wie die Urlauber, vollzählig versammelt sind, ist für den Fremden, der an kontinentale Gebräuche gewöhnt ist, eine Überraschung. Es bleibt ihm die Hoffnung, daß der Pfarrer und seine Freunde ihr Abendessen, ihren Nachtischschwatz bald beendet haben; daß sie sich nicht allzusehr in Erinnerungen vertiefen: Die Skala der Weißt-du-noch-Gespräche ist unerschöpflich; Lateinlehrer, Mathematiklehrer, und erst der Geschichtslehrer!
    Der Kinobeginn ist auf 21 Uhr angesetzt, doch wenn irgend etwas unverbindlich ist, dann diese Uhrzeit. Selbst unsere vagste Verabredungsformel, wenn wir so gegen 9 sagen, hat dagegen den Charakter äußerster Präzision, denn unser So gegen 9 ist um halb zehn zu Ende, dann fängt So gegen 10 an; dieses 21 Uhr hier, die nackte Deutlichkeit, mit der es auf dem Plakat steht, ist die reine Hochstapelei.
    Seltsam genug, daß sich niemand über die Verspätung ärgert, nicht im geringsten . »Als Gott die Zeit machte«, sagen die Iren, »hat er genug davon gemacht .« Zweifellos ist dieses Wort so zutreffend wie des Nachdenkens wert: stellt man sich die Zeit als einen Stoff vor, der uns zur Verfügung steht, um unsere Angelegenheiten dieser Erde zu erledigen, so steht uns zweifellos genug davon zur Verfügung, denn immer ist »Zeit gelassen«. Wer keine Zeit hat, ist ein Ungeheuer, eine Mißgeburt : er stiehlt irgendwo Zeit, unterschlägt sie. ( Wieviel Zeit mußte verschlissen, wieviel gestohlen werden, um die zu Unrecht berühmte militärische Pünktlichkeit so sprichwörtlich zu machen: Milliarden gestohlener Stunden Zeit sind der Preis für diese aufwendige Art der Pünktlichkeit, und erst die neuzeitlichen Mißgeburten , die keine Zeit haben! Sie kommen mir immer vor wie Leute, die zuwenig Haut haben...)
    Zeit zum Nachdenken bleibt genug, denn es ist längst halb zehn, vielleicht sind die Pfarrer jetzt beim Biologielehrer angelangt, immerhin also bei einem Nebenfach, das könnte die Hoffnung beflügeln. Aber selbst für die, die den Aufschub nicht nutzen, um nachzudenken, selbst für sie ist gesorgt: großzügig werden Schallplatten abgespielt, Schokolade, Eis, Zigaretten zum Verkauf angeboten, denn hier — welch eine Wohltat — darf man im Kino rauchen. Es würde wohl einen Aufstand geben, würde man das Rauchen im Kino verbieten, denn die Leidenschaft des Kinogehens ist bei den Iren mit der des Rauchens gekoppelt.
    Die rötlich erleuchteten Muscheln an den Wänden geben nur schwaches Licht, und im Halbdunkel des Saales herrscht eine Munterkeit wie auf einem Jahrmarkt: Gespräche werden über vier Sitzreihen hinweg geführt, Witze über acht Reihen hin gebrüllt; vorne auf den billigen Plätzen vollführen die Kinder einen heiteren Lärm, wie man ihn nur aus Schulpausen kennt; Pralinen werden angeboten, Zigarettenmarken ausgetauscht, irgendwo im Dunkel ertönt das verheißungsvolle Knirschen, mit dem ein Propfen aus einer Whiskeyflasche gezogen wird; das Make-up wird erneuert, Parfüm verspritzt; jemand fängt an zu singen, und für den, der all diesen menschlichen Lauten, Bewegungen, Tätigkeiten nicht zugestehen will, daß sie der Mühe wert sind, die vergehende Zeit zu

Weitere Kostenlose Bücher