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Irisches Tagebuch

Irisches Tagebuch

Titel: Irisches Tagebuch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Böll
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morgens in Metzgerläden an Rinderhälften geschaukelt hatten, bewiesen nun, daß es eine Armutsstufe gibt, der selbst die Sicherheitsnadel zu kostspielig ist: Kordel ist billiger, und sie tut’s auch; was vor acht Jahren einmal ein billiger, aber neuer Sakko war, diente jetzt als Mantel, Rock, Hose und Hemd in einem; hochgekrempelt die Erwachsenenärmel, Kordel um den Bauch, und auf der Hand, unschuldig leuchtend wie die Milch, jenes Manna, das es auch im allerletzten Nest in Irland immer frisch und billig gibt: Eiskrem. Murmeln rollen über den Gehsteig; hin und wieder einen Blick ins Wettbüro geworfen, wo Vater gerade einen Teil der Arbeitslosenunterstützung auf Purpurwolke setzt. Immer tiefer senkt sich die wohltätige Dunkelheit, während die Murmeln gegen die ausgetretene Treppe knallen, die zum Wettbüro hinaufführt. Geht Vater noch zum nächsten Wettbüro, um auf Nachtfalter zu setzen, zum dritten, um auf Inishfree zu setzen? Wettbüros gibt es genug, hier in Alt-Limerick. Die Murmeln rollen gegen die Stufe, schneeweiße Tropfen Eiskrem fallen in die Gosse, wo sie einen Augenblick wie Sterne auf dem Schlamm ruhen, einen Augenblick nur, bevor ihre Unschuld im Schlamm dahinschmilzt .
    Nein, Vater geht nicht in ein anderes Wettbüro, nur noch in die Kneipe; auch gegen die ausgetretene Treppe der Kneipe lassen sich die Murmeln knallen; ob Vater noch Geld für ein Eis gibt? Er gibt. Auch für Jonny eins, und für Paddy, für Sheila und Moira, für Mutter und Aunty , vielleicht gar für Oma? Natürlich gibt er, solange das Geld reicht. Wird Purpurwolke nicht gewinnen? Natürlich wird sie. Sie muß gewinnen, verflucht, wenn sie nicht gewinnt, dann — »Vorsicht, John, knall doch das Glas nicht so heftig auf die Theke.
    Magst du noch einen ?« Ja. Purpurwolke muß gewinnen.
    Und wenn man keine Kordel mehr hat, dann tun’s auch die Finger, magere schmutzige, klamme Kinderfinger der linken Hand, während die rechte Murmeln schiebt, wirft oder rollt. »Ach, Ned , laß mich doch wenigstens mal lecken«, und plötzlich im Abenddunkel der helle Ruf einer Mädchenstimme:
    »Heute abend ist doch Andacht, geht ihr nicht ?«
    Grinsen, Zögern, Kopfschütteln.
    »Ja, wir gehen mit .«
    »Ich nicht.«
    »Komm .«
    »Nein.«
    »Ach. Ja.«
    »Nein.«
    Murmeln knallen gegen die ausgetretenen Stufen der Kneipe.
    Mein Begleiter zitterte; er unterlag dem bittersten und dümmsten aller Vorurteile: daß Menschen, die schlecht gekleidet sind, gefährlich seien, gefährlicher jedenfalls als die Gutgekleideten. Er sollte in der Bar des Shelbourne-Hotels in Dublin mindestens so zittern wie hier, hinter King John’s Castle in Limerick. Ach, wären sie doch gefährlicher, diese Zerlumpten, wären sie doch so gefährlich wie die, die in der Bar des Shelbourne-Hotels so ungefährlich aussehen. Eben stürzt die Wirtin eines Speiselokals hinter einem Jungen her, der sich für zwanzig Pfennig Kartoffelchips gekauft und ihrer Meinung nach sich zuviel Essig aus der Flasche, die er vom Tisch nahm, daraufgekippt hat.
    »Du Hund, willst du mich ruinieren ?«
    Wird er ihr die Chips ins Gesicht schmeißen? Nein er findet keine Antwort, nur sein keuchender Kinderbrustkorb antwortet: Pfeifentöne , die ziehend aus der schwachen Orgel seiner Lunge kommen. Schrieb Swift nicht vor mehr als zweihundert Jahren, 1729, seine bitterste Satire, den ›Bescheidenen Vorschlag, zu verhüten, daß die Kinder armer Iren ihren Eltern oder dem Lande zur Last fallen‹?, in der er der Regierung nahelegte, die geschätzte Zahl jährlicher 120000 Neugeborener den reichen Engländern... als Speise anzubieten — ; genaue, grausame Beschreibung eines Projektes, das vielerlei Zwecken dienen sollte, unter anderem der Verminderung der Zahl der Papisten.
    Noch ist der Streit um die sechs Tropfen Essig nicht beendet, drohend die Hand der Wirtin erhoben, ziehende Pfeifentöne kommen aus der Brust des Jungen. Gleichgültige schleichen vorüber, Trunkene torkeln, Kinder mit Gebetbüchern laufen, um pünktlich in die Abendandacht zu kommen. Aber der Retter nahte schon: groß war er, dick, schwammig, seine Nase hatte wohl geblutet, dunkle Flecken bedeckten sein Gesicht um Mund und Nase herum; auch er war schon von der Sicherheitsnadel auf die Kordel gekommen: für seine Schuhe hatte es nicht mehr gelangt, sie klafften. Er nahte sich der Wirtin, verbeugte sich vor ihr, deutete einen Handkuß an, zog einen Zehnschillingschein aus der Tasche, überreichte ihn — erschrocken nahm

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