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Irisches Tagebuch

Irisches Tagebuch

Titel: Irisches Tagebuch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Böll
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beanspruchen, für den bleibt die Zeit zum Nachdenken: Als Gott die Zeit machte, hat er genug davon gemacht. Zweifellos, beim Gebrauch der Zeit herrschen sowohl Verschwendung wie Ökonomie, und paradoxerweise sind die Zeitverschwender auch die Sparsamen, denn sie haben immer Zeit, wenn man ihre Zeit beansprucht: um schnell jemand zum Bahnhof oder ins Krankenhaus zu bringen; so wie man Geldverschwender immer um Geld angehen kann, sind die Zeitverschwender die Sparkassen, in denen Gott seine Zeit verbirgt und in Reserve hält, für den Fall, daß plötzlich welche gebraucht wird, die einer von den Zeitknappen an der falschen Stelle ausgegeben hat.
    Immerhin: wir sind ins Kino gegangen, um Anne Blyth zu sehen, nicht, um nachzudenken, wenn auch das Nachdenken überraschend leichtfällt und wohltuend ist auf diesem Rummelplatz der Sorglosigkeit, wo Moorbauern, Torfstecher und Fischer im Dunkel den verheißungsvoll lächelnden Damen, die tagsüber mit Straßenkreuzern durch die Gegend fahren, Zigaretten anbieten, Schokolade entgegennehmen, wo der pensionierte Oberst sich mit dem Briefträger über die Vorzüge und Nachteile der Inder unterhält. Hier ist die klassenlose Gesellschaft Realität. Schade nur, daß die Luft so schlecht wird: Parfüm, Lippenstift, Zigaretten, der bittere Torfgeruch aus den Kleidern, und auch die Schallplattenmusik scheint zu riechen: sie dünstet nach der rauhen Erotik der dreißiger Jahre, und die Sitze, wunderbar mit rotem Samt gepolstert — wenn man Glück hat, erwischt man einen, dessen Feder noch nicht gebrochen ist — , diese Sitze, die wahrscheinlich im Jahre 1880 in Dublin als schick gepriesen wurden (Sullivans Opern und Spiele haben sie gewiß gesehen, vielleicht auch Yeats , Synge und O’Casey, den früheren Shaw), diese Sitze riechen so, wie alter Samt riecht, der sich gegen die Rauheit des Staubsaugers, die Wildheit der Bürste sträubt — und der Kinosaal ist ein unfertiger Neubau, noch ohne Lüftung und Ventilation.
    Nun, die plaudernden Pfarrer und Kapläne scheinen doch noch nicht beim Biologielehrer angekommen zu sein, oder sollten sie beim Hausmeister sein (ein unerschöpfliches Thema), bei den ersten heimlich gerauchten Zigaretten? Wem die Luft zu schlecht wird, der kann rausgehen, sich für ein paar Minuten an die Kinomauer lehnen: ein heller, milder Abend draußen: noch ist das Licht des Leuchtturms auf Clare Island, 18 Kilometer weit entfernt, nicht zu sehen: der Blick fällt über die ruhige See vierzig, fünfzig Kilometer weit, über den Rand der Clew-Bai bis in die Berge Connemaras und Galways — und wer nach rechts blickt, westwärts, der blickt bis Achill Head , auf die letzten zwei Kilometer Europas, die noch zwischen ihm und Amerika liegen: wild und wie für den Hexensabbat geschaffen, mit Moor und Heide bedeckt, ragt der Croghaun auf, der westlichste der europäischen Berge, zur Seeseite hin 700 Meter steil abfallend; vorne auf seinem Hang im dunklen Moorgrün ein helles kultiviertes Viereck mit einem großen, grauen Haus: hier wohnte Captain Boycot , an dem die Bevölkerung das Boykottieren erfand: hier wurde der Welt eine neue Vokabel geschenkt; einige hundert Meter oberhalb dieses Hauses die Überreste eines abgestürzten Flugzeuges: amerikanische Flieger hatten, um den Bruchteil einer Sekunde zu früh, geglaubt, den freien Ozean vor sich zu haben, die glatte Fläche, die noch zwischen ihnen und der Heimat lag: Europas letzte Klippe wurde ihnen zum Verhängnis, der letzte Zacken dieses Erdteils, den Faulkner in seiner ›Legende‹ »jene winzige Eiterstelle, die den Namen Europa trägt«, nennt...
    Bläue zieht sich über die See, in verschiedenen Schichten, verschiedenen Schattierungen, eingehüllt in diese Bläue Inseln, grüne, die wie große Moosplacken wirken, schwarze, zackige, die wie Zahnstümpfe aus dem Meer ragen...
    Endlich (oder leider — ich weiß nicht) haben die Priester den Austausch ihrer Schulerinnerungen beendet oder abgebrochen, auch sie kommen, um sich die Herrlichkeit anzusehen, die das Plakat verspricht: Anne Blyth . Die rötlichen Muscheln erlöschen, der Schulpausenlärm auf den billigen Plätzen verstummt, diese ganze klassenlose Gesellschaft versinkt in schweigende Erwartung, während süß, bunt und breitwandig der Film beginnt. Hin und wieder fängt eins der vier- oder dreijährigen Kinder an zu schreien, wenn die Pistolen allzu realistisch knallen, das Blut, zu echt nachgemacht, von der Stirn des Helden fließt oder gar

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