Irrfahrt und Heimkehr des Odysseus
blühenden Pracht, und als nun die Nymphe mit ihrer silbernen Stimme zu singen anhob, hätte er noch gern Eine Weile lauschend gestanden, allein Ka lyp so hatte ihn schon gewahrt und fragte ihn nach seinem Begehr. Sie lud ihn an einen Tisch im Freien und reichte ihm auf goldenen Schüsseln Am bro sia, die Lieblingsspeise der Götter, und schenkte rötli chen Nektar aus, einen Wein, den die Himmlischen allen andern Getränken vorziehn, da er ihnen Unsterblichkeit verleiht. Hermes, von der langen Wanderung erschöpft, aß und trank nach Herzenslust, dann unterbreitete er der Nymphe Zeus’ Gebot. Kalypso erschrak, da sie diese Wor te hörte. Sie barg ihr Gesicht in den Händen, seufzte tief auf und sprach: »Ach, wie grausam und neidisch seid ihr doch, ihr thronenden Götter da droben! Keiner der Euren gönnt ihr das Glück der Liebe mit einem Sterblichen und vergnügt euch doch selbst ohne Scham mit den Töchtern der Erde! Aber was bleibt mir übrig, als das Gebot des Herrschers zu erfüllen. Furchtbar wäre sonst seine Rache. Möge Odysseus denn nach Ithaka reisen – ich will ihm sogar Rat und Tat zur glücklichen Heimfahrt leihn!«
Sie sprach dies und eilte zum Strand hinunter, wo, wie alle Tage, Odysseus weinend und schluchzend saß und über die schimmernde Flut sehnsuchtsvoll in die Richtung blickte, in der die unerreichbare Heimat lag. Die Göttin – denn auch die Nymphen gehörten zu den Unsterblichen, wenngleich sie auch im Rang weit niederer waren als die Himmlischen, die denOlymp bewohnten – reichte ihm eine doppelt geschwungene Axt aus gehärtetem Eisen, an einem Stiel aus Olivenholz befestigt, und sprach: »Sieh hier, Odysseus, ich überbringe dir das sichere Unterpfand deiner Heimkehr! Zeus hat mir befohlen, dich freizugeben, und stärker als meine Liebe zu dir ist die Furcht vor dem Zorn des Göttervaters! Lass darum ab zu jammern, nimm die Axt zur Hand und mach dich ans Werk und fälle Pappeln und Tannen, schäle die Stämme dann ab und verklammere sie zu einem Floß, wälz es mit Hebeln und Rollen an die Küste und steche getrost in See, ich will dir günstige Winde senden, die dich wohlbehalten zu deinem Vaterland bringen werden!«
Des Odysseus Herz jubelte, als er diese Worte vernahm; er ergriff die Axt und fuhr prüfend mit dem Nagel über die Schneide, dann machte er sich sogleich an die Arbeit und mühte sich rastlos vier Tage und vier Nächte lang. Er fällte zwanzig Bäu me, zehn Pappeln und zehn Tannen, hieb die Äste ab, kappte Wurzeln und Kronen, entrindete die zu gleicher Länge gehauenen Stämme und verband sie dann mit eisernen Nägeln und Klammern, hierauf zog er einen Bord von Pfählen um das so gewonnene Verdeck und nagelte um dies Gerüst fugenlos Bretter zu einer festen Brüstung, und schließlich richtete er in der Mitte des Floßes den Mastbaum mit der Rahe auf, bestückte ihn mit einem Segel aus schwarzem Leinen, beschwerte das Deck mit Ballast aus Steinen und Sand, setzte das Steuerbrett ein und wälzte darauf mit Hebeln und Rollen das Schiff zur Küste. Dann aber eilte er zur Nymphe Kalypso in die weinlaubverhangene Grotte, und wenn er, ihrem Willen zu trotzen, sieben Jahre lang Nacht um Nacht neben der Göttin geruht hatte, ohne sie zu berühren, schloss er sie nun zum Abschied in die Ar me, und sei ne wettergehärtete Wange lag auf der ihren wie die Last eines Schiffs auf der weichen seidenen See.
Der Schleier der Leukothea
Am nächsten Morgen – es war dies der zwölfte Tag nach der Beratung der Götter, und Telemach war gerade in Sparta eingetroffen – schob Odysseus sein Floß in die See. Die Nymphe hatte ihn mit einem Gewand aus Purpur und Goldstaub bekleidet und zwei Ziegenfellschläuche kräftigen Weins, einen Schlauch klaren Quellbrunnens und einen geflochtenen Korb voll der herrlichsten Speisen aufs Deck gelegt, und nun befahl sie dem lock ren Südwest, das Segel mit vollen Backen zu blähen, und sie mahnte ihn auch, nicht zu erlahmen, ehe Ithaka erreicht wor den sei. Leicht glitt das Floß in die silberne Meerflut hinaus, und siebzehn Tage lang schwamm, vom gleichmäßig we henden Wind getrieben, Odysseus über die unendliche, sanft gekräuselte Weite dahin und konnte am achtzehnten Tag das Land der Phaiaken, das Zwischenziel seiner Fahrt, am Horizont dunkel und wie ein Schildknauf gebuckelt erblicken, da kehrte mit gewaltig ausholenden Schritten Poseidon, der Herrscher des Meeres, aus dem fernen Äthiopien in die heimatliche Ägäis zurück. Er stutzte, als
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