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Irrfahrt

Irrfahrt

Titel: Irrfahrt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerhard Grümmer
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vorlauten und zu allerlei dummen Streichen aufgelegten Jungen ein vernünftiger Mensch wurde. Kriegsmarine? Selbstverständlich, warum nicht?
    Dr. Apelt war ein wohlhabender Mann. Lange Jahre hindurch hatte seine Arztpraxis nur mäßig Geld gebracht; als jedoch 1934 eine jüdische Praxis in der Nachbarschaft schloß, nahm die Zahl der Patienten erheblich zu. Aus Dankbarkeit und Freude über den finanziellen Aufschwung wurde Dr. Apelt Parteigenosse.
    Studienrat Gerber stammte aus kleinen Verhältnissen. Er hatte sich durchs Studium gehungert und kümmerliche Assessorjahre überstanden. Im ersten Weltkrieg brachte er es zum Leutnant bei der Artillerie - der schweren Artillerie, wie er stets betonte. Seiner Verwandtschaft erschien dieser hohe Dienstgrad als Gipfelpunkt der militärischen Karriere.
    Nach Meinung von Studienrat Gerber hing das Ansehen eines Kriegers von dem Kaliber ab, das verfeuert wurde. Daher galt ein Artillerist viel mehr als ein Infanterist, und schwere Artillerie stand im Wert höher als leichte. Auf diese Theorie spekulierte der Sohn Gerhard. Er zeigte seinem Vater eindrucksvolle Fotos von den Schlachtschiffen «Gneisenau» und «Scharnhorst». Die Geschütztürme waren deutlich zu sehen - Kaliber 28 Zentimeter. Und auf einer solchen schwimmenden Festung wollte Gerhard dienen. Kriegsmarine? Selbstverständlich, warum nicht?
    Von Hitler besaß der Studienrat schon deshalb keine hohe Meinung, weil er nur Gefreiter bei der Infanterie gewesen war. Außerdem redete er genau die Sorte Deutsch, die Gerber seinen Schülern auszutreiben suchte. Über viele Bonzen der braunen Bewegung machte er sich lustig, allerdings im engen Freundeskreis. Nicht etwa öffentlich; dazu war er zu vorsichtig.
    Helmut Koppelmanns Vater war Apotheker, Sohn eines Apothekers und Enkel eines Apothekers. Niemand wußte genau, wie lange sich die Löwen-Apotheke schon im Besitz der Familie befand. Hier war alles Tradition, auch die konservative Gesinnung. In der Wohnung hingen Bilder von Bismarck, Kaiser Wilhelm I. und Tirpitz. Auch auf Wilhelm II. ließ man nichts kommen. Hätte jemand in der Offizin der Apotheke ein böses Wort über den letzten Kaiser gesagt, Koppelmann hätte ihm statt Hoffmannstropfen eine unangenehm wirkende Mixtur eingefüllt.
    Kaiser Wilhelm hatte für die Flotte geschwärmt, hatte Weltpolitik angestrebt und Weltgeltung für Deutschland gefordert. Wenn der Sohn willens war, diese stolze Tradition fortzusetzen, gereichte es der Familie zur Ehre. Die Apotheke sollte sowieso Helmuts älterer Bruder übernehmen. Kriegsmarine? Selbstverständlich, warum nicht?
    Trotz mehrfacher Aufforderung trat der Apotheker nicht in die NSDAP ein, obwohl die meisten seiner konservativen Gesinnungsfreunde bereits Mitglied waren. Er behauptete steif und fest, die Hohenzollern gehörten wieder auf den Thron. Hitler hätte es, bevor er Reichskanzler wurde, dem greisen Generalfeldmarschall von Hindenburg feierlich versprochen, und ehe dieses Versprechen nicht eingelöst wäre, könnte ihm niemand zumuten, sich das Hakenkreuz an den Rockaufschlag zu stecken.
    Eintopf-Sonntag. Jede Familie im Großdeutschen Reich hatte die Pflicht, an diesem Tage ein schlichtes Gericht auf den Mittagstisch zu stellen. Das eingesparte Geld sollte in Form von Spenden dem Winterhilfswerk zufließen.
    Frau Apelt kochte - auf Weisung ihres Ehegatten - Erbsen mit Speck. Die Familie glaubte das ihrem Staat schuldig zu sein. Heinz war davon nicht begeistert. Dr. ApeIt hingegen betrachtete eine spartanische Küche als gute Erziehung zum künftigen Soldaten.
    Frau Gerber kochte - auf Weisung ihres Ehegatten - Huhn mit Reis. Das war bestimmt ein anständiges Essen für den Sonntag und zugleich der offiziell befohlene Eintopf. Studienrat Gerber war sehr stolz auf seine listige Art, mit den Problemen des NS-Regimes fertig zu werden.
    Frau Koppelmann kochte - auf Weisung ihres Ehegatten - Eierflockensuppe, Filetsteak und Pommes frites. Damit brachte der Apotheker seine Opposition zu derartig neudeutschen Unsitten zum Ausdruck. In der Schule allerdings erzählte Helmut, dem väterlichen Rat folgend, sie hätten Nudeln mit Rindfleisch gegessen.
     
    Die Wochentage gehörten der Schule. Neben der Gruppe künftiger Seefahrer bildeten sich in der Klasse noch zwei andere feste Gemeinschaften.
    Da waren zuerst die Flieger. Mit Hingabe bauten sie Modelle von Segelflugzeugen, die etwa zehn Sekunden lang flogen und spätestens bei der dritten Landung zu Bruch gingen, was

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