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Irrfahrt

Irrfahrt

Titel: Irrfahrt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerhard Grümmer
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ersten Weltkrieg in Frankreich gelegen hatten, wurden unruhig. Paris war damals das Ziel ihrer Vorstöße gewesen; sie hatten es nicht erreicht. Diesmal wurde Frankreichs Hauptstadt kampflos übergeben. Studienrat Gerber hatte Freudentränen in den Augen. Voller Rührung schenkte er seinem Sohn fünfzig Mark, obwohl er sonst ziemlich geizig war.
    Einige Wochen später kontrollierte Hitler den größten Teil von Frankreich. Caesar kontrollierte Gallia omnis. Für die Truppen im Westen trat eine längere Kampfpause ein. Die Klasse aber hatte Sommerferien.
    Im August, als der Unterricht wieder begann, trat Gall vor seine Schüler, reckte sich und sprach mit theatralischer Geste: «Und nun schlagen wir das fünfte Buch auf und lesen...», hier legte er eine längere Kunstpause ein, «...die Landung Caesars in Britannien!»
    Atemlos lauschten die Schüler dieser Ankündigung. Jeder begriff sofort, welche aktuelle Bedeutung Galls Worte besaßen. Im Lateinunterricht konnten sie jetzt ein Stück Weltgeschichte miterleben.
    Nach der Kapitulation Frankreichs war die Niederwerfung Großbritanniens das einzige, was Deutschland in diesem Kriege noch zu tun übrigblieb. Mit Bedauern stellten die Sechzehnjährigen fest, daß sie zur Erfüllung dieser historischen Aufgabe nicht mehr gebraucht wurden. Sie mußten lesen und übersetzen.
    Gerhard Gerber war an der Reihe: Caesar legatis imperat, uti quam plurimas posse nt naves aedificandas veteresque reficiendas curarent. Caesar befahl den Legaten (Gerber übersetzte: Divisionskommandeuren - ein Anachronismus, der lächelnd geduldet wurde), daß sie so viele Schiffe wie möglich bauen und die alten ausbessern lassen sollten.
    Urlauber berichteten, daß an der Kanalküste zahllose Wasserfahrzeuge aller Art - darunter sogar Fischkutter, Motorboote und Segelyachten - zusammengezogen und für eine Landungsoperation notdürftig hergerichtet wurden. Von den schweren Kriegsschiffen aber sei nichts zu bemerken.
    Der Unterricht ging inzwischen weiter: Ad celeritatem onerandi subductionisque paulo facit humiliores, quam quibus in nostro mari uti consuevimus. Um die Schiffe schneller beladen und an Land ziehen zu können, ließ er sie ein wenig niedriger als die auf unserem Meer normalerweise verwendeten bauen.
    Hinter vorgehaltener Hand war von flachgehenden Landungsbooten die Rede, die im entscheidenden Augenblick ein schnelles Übersetzen von Truppen und Kriegsgerät ermöglichten. In der Pause allerdings erzählte Wolfram Diederich, der wieder einmal besser informiert war, daß die deutsche Kriegsmarine derartige Boote überhaupt nicht besaß. Um diesem Mangel abzuhelfen, habe man einige hundert Flußkähne von geringem Tiefgang bereitgestellt.
    Koppelmann übersetzte: Caesar befahl alle Schiffe in den Hafen Itium, da ihm von diesem Hafen aus die Überfahrt am bequemsten zu sein schien.
    Der Flottenverein fand Itium auf einer alten Landkarte etwa dort eingezeichnet, wo im Schulatlas Boulogne lag. Die vorzügliche strategische Eignung dieser Ausgangsbasis für eine Landungsoperation war nicht zu übersehen. Die drei wünschten sich brennend, jetzt bei der Kriegsmarine im Hafen Itium beziehungsweise in Boulogne zu sein. Spätestens in zwei Wochen mußte es losgehen, das war völlig klar.
    Dr. Gall nahm Brämmel ins Kreuzverhör: Ibi Caesar cognoscit LX naves tempestate reiectas cursum tenere non potuisse. Dort stellte Caesar fest, daß sechzig Schiffe infolge widriger Winde ihren Kurs nicht hatten halten können. Stürme im Kanal machten das geplante Unternehmen schwierig, denn mittlerweile war es Herbst geworden. Täglich warteten die Schüler auf die entscheidende Meldung, aber sie blieb aus. Der angesetzte Termin wurde immer wieder verschoben. Statt dessen tobte über England eine Luftschlacht.
    Als der Winter hereinbrach, hatte Caesar Britannien längst erobert. Hitler nicht.
     
    Der Hausmeister hieß Rämisch. Er war mittelgroß, hatte ein feistes Gesicht und borstiges Haar. In seiner Jugend hatte er Klempner gelernt. Da er zum regelmäßigen Arbeiten zu faul war, trieb er sich eine Zeitlang umher und landete schließlich bei der SA. Für seine Mitwirkung an verschiedenen Aktionen wurde er 1933 mit einem Hausmeisterposten belohnt. Hier brauchte er nur wenig zu tun und konnte viel herumschreien. In Strickjacke, ausgebeulten Hosen und Filzpantoffeln schlurfte er durch das Schulgebäude und versah mehr schlecht als recht seinen Dienst.
    Das änderte sich, als der Krieg ausbrach. Rämisch

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