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Irrfahrt

Irrfahrt

Titel: Irrfahrt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerhard Grümmer
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gegen ihn vor. Hollmann war Pg. und außerdem der Schwiegersohn des einflußreichen Kreisleiters. In fünf Ehejahren hatte er vier Kinder gezeugt und galt damit als das Muster eines nationalsozialistischen Ehemannes. Seine Frau trug stolz das Mutterkreuz. Der Arm des Kreisleiters reichte so weit, daß der kerngesunde Dr. Hollmann vom Wehrdienst zurückgestellt wurde und auch in den Kriegsjahren an der Schule blieb.
     
    Die neuen Sprachen lehrte ein kleines Männlein mit Spitzbauch und Glatze, von den Schülern «Moppel» genannt. Er verlor kaum jemals das seelische Gleichgewicht und besaß eine Abgeklärtheit, um die ihn mancher seiner Kollegen beneidete. 1940 erreichte er das Pensionsalter, versah aber weiterhin sein Amt. Wegen dieser Einsatzbereitschaf t wurde er öffentlich belobigt. Es war das einzige Lob, das er im Laufe seiner langjährigen Dienstzeit erhielt.
    Moppel war kein Nazi. Widerwillig brachte er zu Beginn jeder Schulstunde den vorgeschriebenen Gruß aus, indem er die rechte Hand mit krummen Fingern bis in die Nähe des Schlüsselbeins hob und zwei undeutliche Worte murmelte, die unmittelbar in ein deutlich ausgesprochenes «Hinsetzen!» übergingen. Daran hielt er auch nach Ausbruch des Krieges fest. Andere Lehrkräfte gaben sich militärisch stramm, Moppel blieb der alte. An ihm prallten alle Ermahnungen des Direktors wirkungslos ab.
    In jungen Jahren hatte Moppel mehrfach England und Frankreich bereist. Manchmal erzählte er davon, doch die Schüler brachten seinen mit feinem Humor gewürzten Beobachtungen über Land und Leute wenig Verständnis entgegen. Sie lebten in einer kriegerisch angeheizten Zeit, Moppel hingegen bewegte sich in weit zurückliegenden, friedlichen Gefilden. Auch konnten sie sich nicht vorstellen, daß er einmal jung gewesen war.
    Umständlich trichterte er ihnen die komplizierte französische Grammatik ein, ließ sie zahllose Regeln und noch mehr Ausnahmen von diesen Regeln pauken. Damit glaubte er seine Schüler für das praktische Leben gerüstet. Sie kannten die Unterschiede im Gebrauch von j'ai eu und j'eu eu, konnten aber weder eine Speisekarte übersetzen noch sich mit einem Franzosen unterhalten.
    Dagegen erlernten sie sorgfältig die englische Aussprache, was sie ein wenig über die entsetzliche Öde des Lehrstoffes hinwegtröstete.
    Eines Tages war eine Lektion zu behandeln, die im Hafen von London spielte. Das interessierte begreiflicherweise die drei Seefahrer. Sie meldeten sich zum Nacherzählen. Nun lagen plötzlich cruisers und destroyers, submarines und motor-gunboats im Hafen der Weltstadt vor Anker. Eine riesige Flottenparade wurde veranstaltet, wahrscheinlich die größte seit Nelsons Zeiten.
    Moppel war hilflos, bei der modernen Kriegsmarine kannte er sich nicht aus. Schließlich fiel die Behauptung, ein battleship habe unweit von Tower-Bridge festgemacht.
    Ob das ein dreadnought sei, wollte Moppel wissen. Diese Bezeichnung stammte aus dem Jahre 1906 und war schon seit mehr als zwanzig Jahren offiziell abgeschafft. Und so trat der seltene Fall ein, daß ein Lehrer sich von seinen Schülern belehren lassen mußte.
    Moppel nahm das nicht übel. Mit feierlichem Ernst trug er den drei Seefahrern die Note «sehr gut» ins Notizbuch ein.
     
    Mehrere Fächer wurden von Kalle unterrichtet. Sein richtiger Name war Dr. Heinrich Scholz. Im Schulgebäude war jedoch der Spitzname weitaus öfter zu hören. Kalle stieß sich nicht daran. Schon sein Vater, der ebenfalls Lehrer war, hatte so geheißen. Zwei seiner Söhne gingen auf die Anstalt und hießen dort selbstverständlich auch Kalle. Soweit nötig, unterschied man den «alten» Kalle, den «großen» und den «kleinen» Kalle. Rief jemand auf dem Schulhof laut «Scholz», rührte sich keiner. Auf das Wort Kalle drehten beide Söhne die Köpfe.
    Kalle gab Deutsch. Schillers Dramen wurden mit verteilten Rollen gelesen, längere Lesestücke methodisch zergliedert wie eine Leiche bei der Sektion. Die Kampfszenen in der «Jungfrau von Orleans» nahm Kalle zum Anlaß, den Unterschied zwischen klassischem Fechten, studentischem Fechten und modernem Sportfechten ausführlich zu erläutern. Damit traf er den Geschmack der Schüler, deren militärische Dinge näherstanden als die Literatur.
    Streng war Kalle im Zensieren der Aufsätze. Er vertrat die Ansicht, daß Ausdruck und Stil durch lateinische Klassiker nur verdorben würden. Schachtelsätze waren bei ihm verpönt. Jeder hatte sich knapp und klar auszudrücken. Die

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