Irrwege
auf die Probe zu stellen.
Kleitus schien die Frage zu ignorieren. Er
wandte sich den Bücherregalen an den Wänden zu. Seine toten Augen – manchmal
leuchtete darin wie eine Kerze hinter Glas der Funke der unsteten Seele auf –
suchten nach etwas. Endlich streckte seine welke Hand sich aus, noch behaftet
mit dem Blut derer, die sie gemordet hatte, und griff nach einem kleinen,
schmalen Bändchen. Er warf es vor Xar auf den Tisch.
»Lies!«
»… Lies«, kam der traurige Kehrreim.
»Es sieht aus wie eine Kinderfibel.« Xar
betrachtete das Büchlein mit unverhohlener Geringschätzung. Er hatte selbst aus
ähnlichen, im Nexus vorgefundenen Exemplaren das Kind Gram in der Runenschrift
der Sartan unterrichtet.
»Ganz recht«, bestätigte Kleitus. »Es stammt aus
den Tagen, als unsere Kinder noch eine Zukunft hatten. Lies.«
Xar studierte das Buch argwöhnisch. Es war alt,
sehr alt – zu urteilen nach dem modrigen Geruch und dem brüchigen, vergilbten
Pergament. Behutsam, in der Angst, die Blätter könnten bei der geringsten Berührung
zu Staub zerfallen, öffnete er den ledernen Einbanddeckel.
Die Erde wurde zerstört.
Vier Welten wurden aus den Trümmern erschaffen.
Welten für uns und für die Nichtigen: Luft, Feuer, Stein, Wasser.
Vier Tore verbinden die Welten: Arianus mit Pryan
mit Abarrach mit Chelestra.
Ein Ort der Läuterung wurde geschaffen für unsere
Feinde: das Labyrinth.
Das Labyrinth ist mit den anderen Welten verbunden
durch das Fünfte Tor: den Nexus.
Das Sechste Tor ist das Zentrum, ermöglicht den Zugang:
der Vortex.
All das wurde vollbracht durch das Siebente Tor.
Das Ende war der Beginn.
Soweit der gedruckte Text. Darunter standen hingekritzelt
die Worte: Der Beginn war unser Ende.
»Du hast das geschrieben«, äußerte Xar.
»Mit meinem eigenen Blut«, sagte Kleitus.
»… Blut.«
Xars Hände zitterten. Er vergaß die Sartan, die
Prophezeiung, die Nekromantie. Dies – dies war mehr wert als alles zusammen!
»Du weißt, wo das Tor ist? Du wirst mich
hinführen?« Er erhob sich ungeduldig.
»Ich weiß es. Die Toten wissen es. Und ich wäre
mit Freuden bereit, dich hinzuführen, Fürst des Nexus…« Zuckungen liefen in
Wellen über Kleitus’ Gesicht, die verstörte Seele huschte ein und aus. Seine
Hände öffneten und schlössen sich krampfhaft. »Sobald du die eben genannte
Bedingung erfüllst. Es läßt sich ganz leicht bewerkstelligen…«
Xar war nicht aufgelegt für anzügliches
Geplänkel. »Unterlaß diesen Unfug. Bring mich hin. Sofort. Oder, sollte das
nicht möglich sein…« Ihm kam der Gedanke, daß das Tor sich vielleicht auf einer
anderen Welt befand, »… sag mir, wo ich es finden kann.«
Kleitus schien das Ansinnen zu bedenken, dann
schüttelte er den Kopf. »Ich glaube nicht, daß ich das tun werde.«
»… tun werde.«
»Warum nicht?«
»Nennen wir es – Loyalität.«
»Das von einem Mann, der sein eigenes Volk abgeschlachtet
hat!« höhnte Xar. »Weshalb mir erst von dem Siebenten Tor erzählen, wenn du
dich dann weigerst, mich hinzuführen?« Plötzlich glaubte er es zu wissen. »Du
willst etwas zum Ausgleich. Was ist es?«
»Töten. Und immer wieder töten. Frei sein von
dem Geruch warmen Blutes, der mich quält, jede Minute meines Lebens – und ich
werde ewig leben. Tod ist, was ich will. Was das Siebente Tor betrifft,
du brauchst mich nicht, um dich zu führen. Dein Vasall ist bereits dort
gewesen. Ich dächte, er hätte dir davon berichtet.«
»… Tod…berichtet.«
»Welcher Vasall? Wer?« Nachdem er die
anfängliche Verwirrung überwunden hatte, fragte Xar: »Haplo?«
»Das könnte der Name sein.« Kleitus verlor das
Interesse.
»… Name sein.«
»Haplo weiß den Weg zum Siebenten Tor?
Unmöglich! Er hat es mit keinem Wort erwähnt…«
»Er weiß ihn nicht«, sagte Kleitus. »Kein Lebender weiß ihn. Aber sein Leichnam würde ihn finden. Er würde
dorthin zurückkehren wollen. Erwecke Haplos Leichnam, Fürst des Nexus, und er
wird dich zum Siebenten Tor führen.«
»Wenn ich nur wüßte, was für ein Spiel du
treibst«, sagte Xar zu sich selbst, während er, scheinbar mit der Kinderfibel
beschäftigt, den Lazar musterte. »Wenn ich nur wüßte, worauf du es
abgesehen hast! Was bedeutet dir das Siebente Tor? Und was willst du von
Haplo? Ja, ich sehe, wohin du mich locken willst. Aber solange wir beide
denselben Weg haben…«
Xar zuckte die Schultern, hob das Buch
vorsichtig hoch und
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