Isau, Ralf - Neschan 03
was zu tun war. Und dahinter…?
Sethur stand unbeweglich vor dem großen Sechseck. Seine Gestalt spiegelte sich darin. Yonathan wurde schon ungeduldig, aber endlich hörte er ein leises Knirschen, die Platte kam aus der Wand hervor und schwang lautlos nach links. Sethur folgte ihrer Bewegung und presste sich an die Wand, während Yonathan schnell dessen Platz einnahm.
Als der Stabträger seine Aufmerksamkeit auf das Innere des Sechsecks lenkte, flammte die blaue Aura Haschevets auf. Langsam trat er ein in den Raum, von dem aus man die ganze Welt beobachten konnte.
Bar-Hazzats Turmzimmer ließ alles vermissen, was Menschen an ihren Wohnstätten schätzen. Die schwarzen, nur grob bearbeiteten Wände schienen aus Fels gehauen zu sein und waren völlig schmucklos. Außer einem schwarzen Steintisch gab es keine Möbel. Auch der Raum selbst war sechseckig. Ringsum an den Wänden befanden sich Fenster. Als Yonathan im Vorübergehen einen schnellen Blick auf sie warf, musste er zu seiner Verblüffung feststellen, dass einige auf eine nächtliche, andere auf eine sonnenbeschienene Landschaft hinauszeigten; er konnte Cedanor erkennen, sogar das ferne Kandamar. Offenbar ließ sich tatsächlich ganz Neschan von hier oben aus übersehen.
Doch Yonathan hatte keine Muße sich mit diesem Phänomen näher zu beschäftigen, seine ganze Aufmerksamkeit wurde auf etwas anderes gelenkt: Hinter dem einzigen Möbelstück des Turmgemachs, einem sechseckigen Tisch im Zentrum des Raumes, stand eine Gestalt, nur fünf Schritte von ihm entfernt.
Er fühlte ein unangenehmes Prickeln, das von seinem Nacken aus den Rücken hinunterlief. Das Wesen wandte ihm den Rücken zu. Es war in weite schwarze Gewänder gehüllt, über den Kopf hatte es einen Schleier gezogen. Yonathan musste an die Nonnen denken, die Pastor Garson früher gelegentlich in den Unterricht mitgebracht hatte, damals im schottischen Knabeninternat von Loanhead.
Plötzlich begann die Gestalt zu sprechen, mit einer weiblichen Stimme, sanft und einschmeichelnd…
»Ich hatte dich nicht so früh erwartet, mein Sohn.«
Obwohl die Stimme freundlich wie kaum eine andere klang, jagte sie Yonathan einen weiteren Schauer über den Rücken. Was für ein Spiel trieb Bar-Hazzat hier mit ihm? Oder glaubte er noch immer, Sethur wäre zurückgekehrt, früher als erwartet?
Als sich die schwarze Erscheinung langsam umdrehte, blieb ihm fast das Herz stehen. Unter dem halblangen Schleier erschien ein feines, bleiches Gesicht, das Yonathan freundlich anlächelte, ein Antlitz, das ihm so vertraut, so tief in ihm eingegraben war, dass er nie geglaubt hätte, es einmal mit Entsetzen anzublicken.
»Mutter!«, keuchte er. Mit allem hatte er gerechnet, aber nicht damit, hier an diesem Ort. Er kannte sie aus zahllosen Erzählungen seines Vaters und seiner Großeltern von der Erde. Und er kannte sie von dem Foto, das sein Vater immer bei sich getragen hatte.
»Du bist gewachsen, seit ich dich das letzte Mal gesehen habe.«
»Damals war ich schließlich noch ein Säugling.« Was tat er? Warum ließ er sich auf diese unsinnige Unterhaltung mit einem Trugbild ein?
Das weiche Gesicht lächelte mitfühlend, der Blick senkte sich, als hinge die Gestalt einer zarten Erinnerung nach. »Natürlich. Das ist lange her. Du hast seitdem viel erlitten.«
»Ich habe es nie so gesehen, Mutter.« Schon wieder! Dies konnte nicht seine Mutter sein. Nicht erst seit dem Streit mit Pastor Garson wusste er, dass die Toten den Lebenden keine Besuche abstatteten.
»Du bist immer allein gewesen, Jonathan.«
»Das stimmt nicht…«
»Du glaubst doch nicht etwa, die wenigen, die sich mit dir abgaben, meinten es ehrlich? Du belügst dich selbst, mein Sohn. Es geschah aus Eigennutz, manchmal steckte vielleicht auch Mitleid dahinter. Aber sicher kein anderer Grund. Denk einmal an deinen Vater. Er sorgte nur für dich, weil er in deinem Bild eigentlich mich sah. Aber wie viel Zeit hat er wirklich mit dir verbracht? Meistens war er auf See, um Fische zu fangen, wie er behauptete.«
»Wir mussten schließlich etwas essen…«
»Und dann stahl sich dein Vater schließlich auch noch davonstarb.«
»Ich hatte noch meine Großeltern. Sie haben…«
»Dein Großvater hat dich abgeschoben, in ein Knabeninternat. Du warst wieder auf dich allein gestellt.«
Yonathan wusste langsam nicht mehr, was er sagen sollte. Natürlich hatte er sich oft allein gefühlt. Warum musste diese Erscheinung in Gestalt seiner Mutter diese alten
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