Isau, Ralf - Neschan 03
denn auch hier wölbten sich Wände und Decke, sahen wie aus dem Fels gefressen aus. Yonathan verdrängte die Vorstellung von einem riesigen Wurm, der sich durch massives Gestein graben konnte, ebenso wie die Erinnerung an den Erdfresser. Er konzentrierte sich auf seine Aufgabe – so gut es ging.
Ab und zu drangen gedämpfte Stimmen aus Türen, die in endloser Zahl den Flur begleiteten.
»Die Unterkünfte der Wachen«, sagte Sethur knapp.
Der Gang, dem sie folgten, unterwarf sich keiner geometrischen Form, die Yonathan bekannt war. Er verbreiterte sich, wurde dann schmäler, durchstieß gelegentlich größere Räume, um schließlich wieder in einen engen, schwarzen, nur von Fackeln beleuchteten Tunnel zu münden. Yonathan konnte nur feststellen, dass der Flur sich in einem großen Bogen nach rechts krümmte und langsam anstieg; er schraubte sich offenbar nach oben. Bisher waren sie noch auf keine einzige Treppe gestoßen.
Nach geraumer Zeit führte Sethur seinen Begleiter in eine weitere Halle.
»Hier endet die äußere Wabe.«
»Gehört die nächste auch den Soldaten?«
Sethur musste lächeln. »Sie ›gehört‹ den Beamten.«
»Sind die hier auch so knickrig wie in der übrigen Welt?«
»Sie haben die Knickrigkeit erfunden.«
Jetzt huschte auch über Yonathans Lippen ein Lächeln. Er hätte nie gedacht, dass Sethur auch so etwas wie Humor besitzen könnte.
Am Ende der zweiten Halle standen neue Wachen. Auch sie schienen Sethur gut zu kennen, denn sie gewährten ihm und seinem Begleiter schon nach einem kurzen Wortwechsel Einlass zur mittleren Wabe.
Der dunkle Flur schien hier etwas breiter sein, ansonsten bot er genauso wenig Abwechslung wie der, durch den sie gekommen waren. Beim Durchschreiten dieses bedrückenden Labyrinths kamen Yonathan ständig neue Bilder: Einmal wurde er an den Schlund eines Drachen erinnert, dann wieder dachte er an ein Geflecht aus Arterien und Venen, das einen gewaltigen schwarzen Organismus durchzog. Anstelle des Blutes bewegten sich hier nur einige wenige Menschen oder andere Geschöpfe, die irgendeiner unbekannten und geheimnisvollen Tätigkeit nachgingen.
Zweimal passierten sie ein Fenster und Yonathan konnte den grauen Schleier des Morgens erkennen, der von Osten her aufzog. Dann erreichten sie die dritte Halle.
Kurz zuvor hatte Sethur ihm noch einmal genaue Verhaltensmaßregeln gegeben. »Wenn wir gleich die innere Wabe betreten, darfst du nichts mehr sagen. Vor allem erwähne den Namen des Höchsten nicht! Bar-Hazzat reagiert sehr empfindlich darauf. Wir können ihn nur überraschen, wenn wir in völligem Schweigen zu dem Turmzimmer vordringen. Selbst deine Gedanken solltest du im Zaum halten.«
»Ich glaubte, Bar-Hazzat kann sie nicht lesen?«
»Das ist richtig, aber er besitzt andere übernatürliche Kräfte. Er kann deinen Herzschlag hören, das Rauschen deines Blutes; er weiß sehr genau, ob jemand gelassen ist oder aufgeregt. Ich konnte ihn nur täuschen, weil ich ihn so lange kenne.«
Yonathan griff nach Sethurs Arm und blieb stehen. »Du sagtest, wir würden gemeinsam zum Turmzimmer vorstoßen, Sethur. Wenn wir oben nicht mehr reden sollen, dann möchte ich vorher noch zwei Dinge klären. Erstens ist dies ganz allein meine Aufgabe; du zeigst mir den Weg, aber dann kehrst du so schnell wie möglich um. Ich weiß nicht, ob dieser Turm noch stehen wird, wenn die Unterhaltung mit Bar-Hazzat beendet ist.«
Sethur wollte etwas einwenden, schien es sich dann aber anders überlegt zu haben. Stattdessen fragte er nur: »Und was wolltest du noch ansprechen?«
»Denkst du etwa, ich bin so undankbar und lasse dich gehen, ohne mich vorher verabschiedet zu haben?« Yonathan versuchte sich in einem zuversichtlichen Lächeln und ergriff Sethurs Hand. »Du hast heute bewiesen, dass dir deine Reue ernst ist. Egal was geschehen wird, ich zweifle nicht daran, dass der Höchste deine früheren Taten vergeben hat.«
»Dann bin ich endlich frei von Schuld?«
»Das habe ich nicht gesagt. Nur der Tod kann alle Verfehlungen sühnen. Aber ich bin mir sicher, dass wir uns nach der Weltentaufe Wiedersehen werden – sofern ich Bar-Hazzat bezwinge.«
Sethur nickte. »Mehr darf ich nicht erwarten.« Er drückte Yonathans Hand, dass es fast schmerzte, und sagte: »Lebt wohl, Geschan. Möget Ihr Erfolg haben. Und: Lebe wohl, Yonathan. Du hast mich gelehrt, welche Macht die Liebe besitzt. Ich bin froh, einen Freund wie dich gehabt zu haben.«
Yonathan gefiel die Endgültigkeit in
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