Isau, Ralf - Neschan 03
Tode gezeichneten Mannes, in ebenjenes Gesicht, von dem er einst für immer Abschied genommen hatte.
»Warum bist du ungehorsam gewesen, mein Sohn?«
Schon wieder ein Vorwurf! Yonathan war nicht fähig zu antworten.
»Erinnerst du dich nicht mehr der letzten Worte, die ich dir mitgegeben habe?«
Yonathan nickte: natürlich. Aber sagen konnte er noch immer nichts.
»›Achte stets alles Leben.‹ Mehr verlangte ich nicht von dir.« Sein Vater sah unendlich enttäuscht aus. »Und nun bist du hierher gekommen, um Leben zu vernichten.«
»Das stimmt nicht…«
»Jonathan! Hast du etwa geglaubt, du könntest Bar-Hazzat töten und gleichzeitig das Leben aller seiner Untertanen bewahren? Wenn er in der Weltentaufe untergeht, werden auch viele seiner Diener umkommen. Aber es ist noch nicht zu spät für dich umzukehren. Lass die anderen das Töten übernehmen und finde deinen Frieden in Gan Mischpad.«
Daran hatte Yonathan schon oft gedacht. Es schmerzte ihn, dass es vernunftbegabte Geschöpfe gab, die sich auf Gedeih und Verderb der Finsternis verschrieben hatten.
»Aber sie besitzen einen freien Willen, seit Yehwohs Tränen Neschan heilten. Wenn sie sich aus eigenem Antrieb vom Licht abgewandt haben, müssen sie auch die Verantwortung dafür tragen.«
»Du machst es dir sehr einfach, mein Sohn. Weil du dein Gewissen beruhigen möchtest.«
In Yonathans Kopf begann sich alles zu drehen, Vergangenheit und Gegenwart, Wahrheit und Täuschung überlagerten sich. Auf was für ein Spiel hatte er sich da eingelassen?
»Lügen!«, schleuderte er dem sterbenskranken Mann entgegen. »Immer wieder Lügen! Ihr versucht Euch selbst zu schützen, Bar-Hazzat, wollt mich mit trügerischen Worten verunsichern. Aber das wird Euch nicht gelingen.«
»Du bist mir etwas schuldig, Jonathan.«
Schon wieder dieses Wort! Es bohrte sich in sein Herz. »Es gibt keine Schuld, die ich nicht bezahlen könnte.« Er atmete schwer.
»Du hast mir das Wertvollste genommen, das ich je besessen habe!«
Yonathan starrte in das vorwurfsvolle Gesicht. Er ahnte, was nun kommen würde.
»Durch dich habe ich Jennifer verloren. Wir wollten gemeinsam ein Kind. Aber du hast deine Mutter getötet. Du hast sie mir genommen.«
Yonathans Blick strich ziellos über den Boden. Wie konnte dieses grausame Wesen nur all das wissen? Für die Antwort musste er seine ganze Kraft aufwenden. »Ich wünschte, es wäre nicht geschehen«, sagte er. »Aber eine Schuld, wie du sie mir aufbürden willst, kann nur den betreffen, der auch wirklich verantwortlich ist. Ihr beide, Mutter und du, wolltet euer Leben in euer Kind legen – und eure Liebe. Und dieses Ziel habt ihr erreicht. Zeit und Umstände ließen es nicht zu, dass wir eine Familie werden konnten, aber trotzdem habt ihr mir alles gegeben. Freiwillig. Und aus Liebe.«
Yonathans trotzige Worte schienen zwischen ihm und der Gestalt seines Vaters in der Luft zu hängen. Lange Zeit blickten sie sich schweigend an. Das graue, kränkliche Gesicht hatte sich verhärtet. Erneut setzte die Verwandlung ein. Leichenblässe breitete sich auf dem Antlitz aus, die hohlen Wangen fielen noch weiter ein, die Haut spannte sich über dem Schädel. Zuletzt erschien dieser hässliche Punkt. Mitten auf der Stirn. Ein Muttermal zuerst, dann ein schwelender Fleck. Weißer Rauch stieg auf, die Haut an der betreffenden Stelle färbte sich schwarz, und schließlich brach daraus ein glühender karminroter Stein hervor.
Yonathan fuhr erschrocken zurück. Instinktiv hob er den Richterstab und verstärkte den blauen Lichtschild. Keinen Moment zu spät, denn schon löste sich ein knochiger Arm aus dem schwarzen Umhang, den die Gestalt nun wieder trug, und schleuderte einen Blitz auf den Stabträger.
Die Flammen umzüngelten Yonathan, ließen ihn völlig versinken in einem Meer aus violettfarbenem Feuer. Er stemmte sich der Attacke entgegen und keuchte vor Anstrengung, gleichzeitig bestürmten Zweifel sein Bewusstsein. Wie lange konnte er diese Kraft abwehren? Hatte sich das Feuer Haschevets nicht als ein sehr wankelmütiger Helfer erwiesen, als er die Hüter der Augen bekämpfte? Und nun stand er dem Herrn dieser finsteren Mächte gegenüber!
Das karminrote Feuer lastete schwer auf Yonathan und je mehr Raum die Gedanken des Zweifels beanspruchten, umso mehr fühlte er seinen Widerstand schwinden. Er spürte, wie das Feuer an seiner Lebenskraft zehrte. Nicht mehr fähig dem ungeheuren Druck standzuhalten, sank er auf die Knie, geblendet vom
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