Isau, Ralf - Neschan 03
Wunden aufreißen? Schon folgte der nächste Stich.
»Und dann zuletzt noch diese schlimme Krankheit. Nun warst du selbst für deine Klassenkameraden zu einem Ausgestoßenen geworden. Man hat dich in eine entfernte Kammer des Internats abgeschoben.«
»Was willst du?« Endlich war es heraus! »Ich habe immer Menschen gehabt, die mich liebten. Du selbst brachtest mich in Liebe zur Welt, Vater zog mich mit viel Liebe auf, später auch die Großeitern. Und Samuel tat so viel für mich, dass ich es niemals wieder gutmachen kann…«
»Jonathan… Warum widersprichst du deiner Mutter?«
Er hielt erschrocken den Atem an.
»Du betrügst dich selbst, mein Sohn«, sagte die Gestalt, die vorgab seine Mutter zu sein. »Sogar nachdem du dein jämmerliches Dasein auf der Erde nicht mehr ertragen konntest und du dich auf diese Welt hier flüchtetest, bist du weiter allein gewesen. Denke doch nur an die letzten Jahre. Warst du nicht eingesperrt mit Goel, diesem kauzigen Alten?«
So hatte Yonathan sein Leben nie gesehen. Er spürte die ätzende Wirkung dieser Worte, die an seinen guten Erinnerungen nagten.
»Ich bin gekommen, um deinem Herumirren ein Ende zu bereiten«, fuhr die dunkle Gestalt fort.
»Deshalb bin ich auch hier.«
»Ich bin gekommen, um dir endlich ein Zuhause zu geben«, fuhr das Trugbild fort. »Bleib bei mir. Hier wirst du nie mehr allein sein.«
In Yonathans Kopf drehte sich alles. Er musste sich zusammennehmen, durfte den Einflüsterungen nicht nachgeben und zulassen, dass sie die Wirklichkeit dessen, was er erlebt hatte, vergifteten. Seine Finger krallten sich um Haschevets Schaft, er atmete tief durch und erwiderte fest: »Lügen! Alles nur Lügen! Ich weiß, dass du nicht meine Mutter bist. Macht endlich Schluss, Bar-Hazzat.«
»Ich wollte dir nur klarmachen, dass zwischen uns noch eine Rechnung offen steht, mein Sohn.«
»Nennt mich nicht Euren Sohn«, fauchte Yonathan die Gestalt an, war aber zugleich verunsichert. Auf was spielte sie an?
»Du weißt genau, was ich meine«, setzte die Erscheinung nach. Ihre Stimme hatte sich verhärtet, in ihr schwang bitterer Vorwurf. »Du hast mich getötet, Jonathan. Um dein Leben zu empfangen, hast du das meine genommen. Das ist die Schuld, die du mir gegenüber hast.«
Yonathan versagte der Atem. Woher wusste dieses boshafte Wesen von seinen geheimsten Gefühlen? Natürlich hatte er sich als kleiner Junge oft selbst vorgehalten am Tode seiner Mutter schuld zu sein – schließlich war sie bei seiner Geburt gestorben.
»Du hast es freiwillig getan!«, keuchte er. Er durfte jetzt nicht schwach werden. »Es war ein Beweis deiner großen Liebe. Zu Vater und auch zu mir. Ich weiß, dass meine wirkliche Mutter mir nie etwas Derartiges vorwerfen würde. Legt endlich die Maske ab, Bar-Hazzat!«
Das ebenmäßige Gesicht begann sich zu verändern. Zuerst zeigte es nur ein spöttisches Lächeln, aber dann sah Yonathan mit Schrecken, wie es sich immer mehr verformte. Aus dem Lächeln wurde ein hässliches Kichern, und während die Farbe aus den Wangen wich, gruben sich Falten in die makellose Haut, die braunen Augen verwandelten sich in ein rotes Glühen, und schließlich lachte ihn eine Furcht erregende Fratze an.
Yonathan starrte voller Entsetzen in das grauenhafte Gesicht. Da zog Bar-Hazzat hastig den Schleier über sein entstelltes Antlitz und wandte sich ab. Und auch das Gefühl des Grauens verebbte.
Der Stab in Yonathans Hand schien zu pulsieren, als wolle er seinen Träger beruhigen. Oder war es eine Aufforderung, Bar-Hazzat in den Rücken zu fallen? Ihn mit Haschevets Macht niederzuschlagen? Yonathan tat einen Schritt auf den Tisch zu, aber blieb sofort wieder stehen. Nein, darauf wollte Bar-Hazzat ja hinaus: Hass und blinden Zorn in ihm entfachen – auf diesem Terrain kannte sich der dunkle Fürst aus. Gerade hatte sich Yonathan wieder in die Gewalt bekommen, als die dunkle Gestalt sich erneut umdrehte.
Diesmal blickte ihm sein Vater entgegen. Ungläubig wischte Yonathan sich über die Augen… und befand sich in der Fischerkate in Portuairk, seiner schottischen Heimat. Die Gestalt vor ihm hatte sich nicht bewegt, aber die Umgebung um sie herum war verwandelt. Er erkannte die Hütte von Großvater Morton und Großmutter Hazel. Hier hatte er die ersten sechs Jahre seines Lebens verbracht.
Yonathans Vater stand an einem groben Holztisch, unter einem Fenster, das eine atemberaubende Aussicht auf das Meer bot. Yonathan blickte in das Gesicht eines vom
Weitere Kostenlose Bücher