Isau, Ralf - Neschan 03
Lehren den Geist der Menschen.«
»Wie das?«
»Sie predigen ihnen Reichtum, Erfolg, Macht, Ansehen – alles, was die Gier des Menschen zu nähren vermag. Das Gefährliche an ihren Lehren ist, dass die Rücksicht gegenüber den Mitmenschen nichts mehr gilt; alles muss sich der Befriedigung des eigenen Verlangens beugen. Bei denen, die ohnehin schon Macht und Einfluss besitzen, fällt der Same aus Temánah naturgemäß auf besonders fruchtbaren Boden. Das Gerede der Priester schmeichelt ihren Ohren: ›Tu, was du willst. Nur du bist wichtig. Der Stärkere siegt immer über den Schwachen. Warum sich nicht auf die Seite der Gewinner stellen?‹ Das sind ihre Glaubenssätze. In meinem Traum sah ich, dass in manchen Gegenden Menschen verfolgt oder zumindest als Feinde der Gemeinschaft beschimpft werden, weil sie die Selbstsucht ihrer Mitmenschen anprangerten und zu mehr Nächstenliebe aufriefen.«
»Ich vermute, dass es als siebter Richter meine Aufgabe ist die Menschen wieder zur Vernunft zu bringen?«
»Ja und nein«, meinte Goel. »Bedenke: Wir Richter haben die Menschen zu allen Zeiten auf Yehwohs gerechte Wege hingewiesen und die Machenschaften der dunklen Seite angeprangert. Einige hörten, darauf, andere lachten über uns. Was du zu tun hast, ist weit mehr, als die sechs Richter vor dir unternahmen.«
»Ich dachte mir schon etwas Ähnliches. Du sprichst wahrscheinlich vom zweiten Teil der Tränenland-Prophezeiung.«
Goel nickte bedächtig. »Auch davon. Melech-Arez verlangt das zurück, was ihm – wie er meint – ganz allein zusteht. Jeder, der das Sepher Schophetim, das Buch der Richter Neschans, kennt, weiß, dass er der Gott dieser Welt ist. Er hat sie geschaffen als eine jämmerliche Kopie der Erde. Er wollte eine Welt, die ihm zu Füßen liegt, in der ausnahmslos jede Kreatur ihn als Gott und Schöpfer anbetet.«
»Was ihm nur sehr unvollkommen gelungen ist.«
»Natürlich. Hätte Yehwoh die entarteten Geschöpfe Neschans nicht von ihrer krankhaften Bosheit befreit, würde längst kein vernunftbegabtes Lebewesen mehr auf dieser Welt existieren. Yehwoh hat den vorher willenlosen Geschöpfen Melech-Arez’ die Fähigkeit gegeben selbst zu entscheiden, wem sie dienen möchten: ihm oder dem selbst ernannten Gott Neschans. Außerdem sandte er die Richter und die Träumer von der Erde, als Kraft des Guten gegen die Mächte des Bösen.«
»Wir beide wissen ganz genau, wohin das alles geführt hat. Die Menschen und mit ihnen alle anderen vernunftbegabten Wesen Neschans finden sich seit Jahrtausenden in zwei Lagern wieder. Aber wie kann sich das jemals ändern?«
»Durch die Weltentaufe.«
Goels prompte Antwort raubte Yonathan für einen Moment den Atem. Seit den Tagen Yenoachs, des ersten Richters, war die Weltentaufe zwar in den heiligen Schriften immer wieder angekündigt worden, aber die Menschen neigen nun einmal dazu, die Unwägbarkeiten der Zukunft einfach zu verdrängen. Dass dieses Ereignis, in dessen Folge Neschan für immer vergehen würde, so kurz bevorstand, damit rechneten wohl nur wenige.
»Ich habe nie so richtig verstanden, wie von einem einzigen Menschen, dem siebten Richter, das Geschick einer ganzen Welt abhängen kann«, sagte Yonathan. »Was nützt den anderen Menschen da schon das Recht, frei über ihr eigenes Handeln zu bestimmen?«
Goel lächelte nachsichtig. »Das wäre der Gegenstand einer späteren Lektion gewesen, Geschan. Lass es mich ganz kurz erklären: Yehwoh ist gerecht, er ist die Liebe in Person. Nie würde er einen Menschen dem Untergang weihen, der ihm treu ergeben ist. Aber diese Welt hier – die Heimat so vieler Lebewesen – wurde vom Bösen hervorgebracht. Sie wurde geschaffen, um einem bösen Zweck zu dienen. Aus diesem Grund kann auch nichts, das von dieser Welt stammt, Neschan retten. ›Finsternis kann niemals Licht gebären‹, heißt es im Sepher. Deshalb wurden die Richter immer von der Erde genommen. Und dir, Geschan, ist die Aufgabe anvertraut, als Stellvertreter für die vielen Gerechten ein für allemal die dunklen Helfershelfer Melech-Arez’ von dieser Welt zu verbannen. Nur dann wird die Weltentaufe anbrechen und dem Untergang Neschans ein neues Emporheben folgen, eine Welt mit neuem Namen.«
Yonathan schwieg lange Zeit. Obgleich Goels Worte ihm nicht fremd waren, hatte er das Unausweichliche lange weggeschoben. Eine ganze Welt zu retten erschien ihm als eine nicht eben leichte Bürde.
Er musste sich überwinden das Schweigen, das ihm ein
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