Isau, Ralf - Neschan 03
trügerisches Gefühl der Geborgenheit gab, zu brechen. »Und wie, glaubst du, kann ich Bar-Hazzat und die anderen Diener des Melech-Arez nachhaltig ausschalten?«
Goel schien nur auf Yonathans Frage gewartet zu haben. »Ganz einfach, du musst die sechs Augen Bar-Hazzats zerstören.«
»Die… was?«
»Ach«, Goel wirkte zerstreut, »davon habe ich dir, glaube ich, noch nicht erzählt. Ein schweres Versäumnis, das muss ich eingestehen. Melech-Arez und seine entarteten Geister lieben es, sich an materielle Dinge zu binden: Steine, Bilder, Statuen, alles Mögliche. Da sie selbst über keinen Leib verfügen, nutzen sie das Stoffliche, um damit Macht über die Lebewesen Neschans zu gewinnen.«
»Und die sechs Augen Bar-Hazzats sind solche ›stofflichen‹ Dinge?«, fragte Yonathan verwirrt.
Goel nickte. »Es gibt im Sepher nur einige vage Andeutungen über sie. An einer Stelle heißt es: ›Und der Fürst des Südreiches sandte seine Boten aus, damit sie ihm dienten als Augen, um allezeit zu wachen über die Tränenwelt…‹«
Yonathan erinnerte sich an die Textpassage und fuhr fort: »›Vier mit den Weltwinden, einen in das Herz des Himmelsthrons und der sechste mit jedem Schritt an der Seite seines Herrn – ein jeder karminrot gekleidet, um in Blut zu tauchen die Länder des Lichts.‹«
»Ich muss immer wieder über dein Gedächtnis staunen, auch wenn ich weiß, dass Haschevet dich ein wenig unterstützt.«
»Er hilft mir ganz gehörig!«, versicherte Yonathan. Dann fiel ihm etwas ein. »Ich habe dir doch davon erzählt, wie der Stab Haschevet damals am Südkamm die Eislawine zum Schmelzen brachte, auf der Sethur stand.«
»Der Heeroberste Bar-Hazzats wurde mit dem Schmelzwasser fortgeschwemmt«, erinnerte sich der alte Richter.
»Als Sethur in den Eismassen versank, schleuderte er mir noch einen Fluch nach. Damals waren es rätselhafte Worte für mich. Er rief: ›Ihr habt zwar einen Sieg errungen, aber Ihr habt die Schlacht noch nicht gewonnen, Stabträger. Die Augen liegen in ihren Höhlen und harren der Stunde der Erweckung, um Euch wieder die Macht zu nehmen und sie dem zu geben, dem sie gebührt.‹ Meinst du, er hat von denselben Augen gesprochen wie das Sepher Schophetim?«
»Da bin ich mir sogar sicher, Geschan.«
»Ich wüsste nur zu gern mehr über sie. Die Prophezeiung im Sepher und auch Sethurs Fluch – all das klingt, als wären die sechs Augen eigenständige Wesen.«
Goel zuckte mit den Schultern. »Es ist wenig bekannt. Aber nach dem, was ich über den Herrscher Temánahs weiß, glaube ich nicht, dass er irgendjemandem wirklich traut – selbst Sethur hat ihn enttäuscht, weil er dich nicht fangen konnte.«
»Wonach muss ich dann suchen, um Bar-Hazzats sechs Augen zu finden?«
»Nehmen wir einmal an, es seien Steine, karminrote Steine, um genau zu sein. Fällt dir dazu irgendetwas ein?«
Yonathans Augen weiteten sich. »Abbadon!«, hauchte er den Namen der verfluchten Stadt. »Als ich in dem Schwarzen Tempel nach Yomi suchte, sah ich einen Raum, in dem ein karminrotes Licht strahlte.«
»Nun, wie es aussieht, wissen wir bereits, wo sich das erste Auge befindet. Wenn es sich um ein lebendes Wesen gehandelt hätte, wäre es dir bestimmt entgegengetreten, um sich zu verteidigen.«
»So aber kam ihm Bar-Hazzat zu Hilfe und hätte mich beinahe zerquetscht wie einen lästigen Wurm. Sollte er immer sofort zur Stelle sein, sobald ich mich einem seiner Augen nähere, dann wird es ziemlich schwierig werden sie zu zerstören.«
Goel wiegte den Kopf hin und her. »Ich glaube nicht, dass er dazu in der Lage ist. Der Schwarze Tempel dürfte in dieser Hinsicht eine Sonderstellung einnehmen. Er war schon immer Bar-Hazzats Refugium. Außerdem darfst du nicht vergessen, dass er dir damals schon längere Zeit auf den Fersen war.«
»Jetzt wird mir einiges klar! Ich erinnere mich noch genau an die Worte des schwarzen Schattens im Tempel von Abbadon. Er sagte: ›Ich kenne dich genauer, als du denkst, Yonathan. Du kriechst bereits viel zu lange Zeit unter meinen Augen dahin.‹ Er meinte nichts anderes als seine sechs karminroten Augen. Je länger ich darüber nachdenke, desto mehr gelange ich zu der Überzeugung, dass ich auf meiner Reise nicht nur einem Stein – oder was immer diese Augen darstellen – sehr nahe gekommen bin.«
»Das kann gut sein. Vielleicht waren all die Hindernisse, die auf deinem Weg zum Garten der Weisheit lagen, Teil eines größeren Plans. Du solltest aber trotzdem
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