Isau, Ralf - Neschan 03
innehabe, solle er sich beizeiten an solche »Störungen« gewöhnen.
Im Laufe der vergangenen Monate hatten viele Besucher um Einlass gebeten – aus Teebechern, Brunnen und Rosenblüten oder aus angebissenen Äpfeln heraus. Goel pflegte eben einen regen Gedankenaustausch mit seinen vierzig Boten, den Charosim. Am häufigsten »schaute« Navran Yaschmon »herein«, wie er sich auszudrücken pflegte. Yonathans Ziehvater hatte sich in Ganor niedergelassen, nachdem sein Schützling zum siebten Richter ernannt worden war, und er bestand darauf, auch die kleinste Neuigkeit persönlich weiterzugeben. Yonathan war immer hocherfreut, wenn er das Gesicht des alten Mannes irgendwo entdeckte. Niemanden ließ er lieber ein. Allerdings hatte seit dem Tag, an dem er sich mit seinen Gefährten vor den Häschern Sethurs in den Garten flüchtete, auch kein Unbefugter mehr versucht in diesen heiligen Ort einzudringen. Zum Glück! Jemanden zurückzuweisen hätte bedeutet ihn hilflos im Grenznebel in die Irre zu schicken – manche behaupteten, für immer.
Die durch den Stab Haschevet wirkende Macht verlieh Yonathan die unbestechliche Gabe des Gefühls. Er war in der Lage die Absichten und Empfindungen anderer Personen klar zu erkennen. Deshalb konnte er auch die Besucher, die um Einlass baten, sehr zuverlässig einschätzen. Alles Weitere war fast schon Routine: Yonathan öffnete mit seiner Willenskraft den Nebel und der Neuankömmling erreichte, ganz gleich, aus welcher Richtung er den Garten betrat, in wenigen Stunden den Wohnsitz der Richter Neschans und konnte sich mit Goel oder ihm besprechen.
Yonathan kannte das Gesicht des jungen Mannes, das ihn aus dem Weidenstamm heraus anlächelte. Er kannte auch das zweite Gesicht, das sich kurz darauf an derselben Stelle zeigte. Felin und Gimbar, seine alten Gefährten, waren in den Grenznebel eingetaucht und baten um Zutritt. Yonathan freute sich die beiden wieder zu sehen. Ihnen gewährte er selbstverständlich Einlass in den Garten der Weisheit.
Und dennoch schien an diesem Morgen nichts so zu sein wie an anderen Tagen.
»Ich muss dich dringend sprechen, Geschan.«
»Das dachte ich mir schon, Meister. Warum sonst hättest du Bithya zu mir geschickt – und das noch vor dem Mittagessen?«
Die mandelförmigen Augen Goels verengten sich. »Erstens, mein vorlauter Schüler, musst du mir nicht immer vorhalten, dass ich Speisen und Getränken gewisse Freuden abgewinne, und zweitens: Wo ist Bithya überhaupt? Ich dachte, sie würde mit dir gemeinsam den Heimweg antreten.«
Yonathan durchschaute schnell, dass Goels Sorge um Bithya nur vorgeschoben war, um von seiner offensichtlichen Unruhe abzulenken. Zwar besaß der kleine Mann mit dem langen dünnen Bart von Natur aus ein sehr lebhaftes Temperament, das ihm selbst nach neunhundert Lebensjahren noch aus den Augen blitzte, aber Goels jetzige Anspannung war nicht darauf zurückzuführen. Etwas Ernstes musste geschehen sein.
Yonathan beschloss auf die Taktik seines Lehrmeisters einzugehen und antwortete: »Bithya hat sich schnell rar gemacht, nachdem sie mir deine Botschaft überbracht hatte.« Sein Experiment mit der Kuh verschwieg er lieber.
»Mich deucht, sie ahnt bereits, dass uns größere Veränderungen ins Haus stehen; Frauen sind in solchen Dingen sehr empfindsam. Es wundert mich übrigens, dass du noch nicht…« Der Richter hielt inne und blickte Yonathan fragend an.
Aber Yonathan wollte sich nicht darauf einlassen. »Was bewegt dich, Meister?«
»Es geschehen beunruhigende Dinge. Komm mit. Lass uns ein wenig spazieren gehen.«
»Ich habe heute Nacht einen Traum gehabt«, begann Goel, nachdem sie schweigend ein Stück des Weges zurückgelegt hatten. »Es war eine Botschaft von Yehwoh, von großer Tragweite. Eine Botschaft, die mich – das muss ich gestehen – ziemlich aufgewühlt hat.«
»Ach, daher das Rauschen!«
»Wie bitte?« Goel wirkte verwirrt.
Mit einem Mal erhielt alles einen Sinn. Der Traum der letzten Nacht, an den Yonathan sich merkwürdigerweise nicht mehr erinnern konnte, war nicht sein eigener gewesen. Durch die Kraft Haschevets hatte er unbewusst die Erregung Goels wahrgenommen, wie ein fernes Geräusch irgendwo im Hintergrund, das man nicht recht deuten kann. Aber was konnte Goel derart beunruhigt haben?
Yonathan unterdrückte seine Neugier und sagte scheinbar ruhig: »Es ist lange her, dass du einen solchen Traum gehabt hast, nicht wahr, Meister?«
Goel nickte ernst. »Nicht mehr, seit das
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