Isau, Ralf
in den Sessel sinken. Er konnte seine Gedankenlosigkeit nicht fassen. Wieder und wieder schüttelte er den Kopf. Und darüber schlief er schließlich ein.
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Erschrocken fuhr Karl hoch. Er musste eingenickt sein. Verwirrt blickte er sich um. Er saß immer noch im geheimen Bücherkabinett des Thaddäus Tillmann Trutz. Oder schon wieder? Er hasste dieses Gefühl der Orientierungslosigkeit, das ihn gewöhnlich nach dem Aufwachen heimsuchte. War seine Reise durch Phantásien nur ein lebhafter Traum gewesen?
Schwerfällig erhob er sich aus dem staubigen Ohrenbackensessel. Im Kabinett standen vier große Kartons. Karls Hand fuhr zur rechten Manteltasche. Darin befand sich ein großer, schwerer Gegenstand. Also doch kein Traum!
Er durchsuchte die Kartons. Im zweiten fand er das Buch Die unendliche Geschichte. Damit lief er nach vorn in den Laden. Zu seinem Ärger stellte er fest, dass nicht nur die Tür, sondern auch das Schaufenster vernagelt war. Der Schreiner, den er mit der Reparatur der eingeworfenen Scheibe beauftragt hatte, musste nicht richtig hingehört haben. Überdies hatte er miserable Arbeit geleistet. Überall Ritzen, durch die Speere grellen Sonnenlichts eindrangen und den allgegenwärtigen Staub illuminierten. Ohne diese Mängel würde im Laden allerdings tiefe Dunkelheit herrschen, so war es wenigstens ein dämmriges Zwielicht. Zu allem Überfluss war auch noch die elektrische Beleuchtung kaputt.
Wie hatte der Laden in sieben Tagen nur so herunterkommen können? Überall Spinnweben. Alles lag unter einer fingerdicken Staubschicht. Hätte Karl gewusst, dass eine Woche ohne Saubermachen solche Folgen haben konnte, dann wäre er vielleicht doch Beamter in einer Schreibstube geworden wie ... wie irgendjemand in seiner Verwandtschaft eben; der Name wollte ihm nicht mehr einfallen. Er kletterte auf eine Leiter und versteckte den Lux hinter einer Doppelreihe Büchern direkt unter der Decke. Die unendliche Geschichte deponierte er an einer anderen Stelle.
Danach begab er sich zur Tür und untersuchte die Bretter. Er schüttelte den Kopf. Nicht zu fassen! Da hatten ihn die Handwerker tatsächlich eingeschlossen. Er trat gegen ein Brett. Die Nägel gaben nach, als steckten sie in morschem Holz. Mehr Sonnenlicht fiel herein. Jetzt erst kam Karl die Idee, einen Blick auf seine Taschenuhr zu werfen. Es war sieben Minuten nach elf. In einundfünfzig Minuten läuft die Frist ab!
Der Gedanke durchzuckte ihn wie ein Stromschlag. Vielleicht war ja doch noch nicht alles verloren. Möglicherweise hatte Thaddäus vor seiner Abreise nach Phantásien einen Brief aufgegeben und darin alles erklärt. Unvermittelt spürte Karl einen unbändigen Kampfeswillen in sich aufsteigen. Bevor der Notar ihm nicht klipp und klar ins Gesicht sagte, dass er keine Chance mehr hatte, wollte er die Hoffnung nicht aufgeben.
Er trat abermals zu. Noch mehr Licht drang ein. Sein verletztes Fußgelenk schmerzte, aber er wiederholte die Prozedur noch einige Male, dann fiel die Planke herunter. Von neuem Elan gepackt, löste er weitere Bretter. Dann fielen gleich mehrere, die durch einen diagonalen Balken verbunden gewesen waren, laut polternd herab. Karl stieg auf die Straße hinaus. Frische Herbstluft umwehte seine Nase.
Vor ihm stand Frau Holle und machte ein Gesicht, als erblicke sie ein Gespenst.
»Guten Morgen, Nachbarin. Sie sehen irgendwie mitgenommen aus. Hatten wohl eine lange Nacht gestern?« Karl biss sich auf die Zunge. Schon wieder so eine überflüssige Frage, zumal sie an eine Dame gerichtet war.
Heide Holle schüttelte den Kopf und murmelte: »Das Alter geht eben nicht spurlos an einem vorüber, nach so langer Zeit.«
»Das Alter? Ich bitte Sie, sieben Tage können doch so viel nicht ausmachen.«
Frau Holle schnappte nach Luft. »Sieben Tage? Sie Armer! Was haben'se denn mit Ihnen angestellt?«
Ein Waldschrat hat mich und meinen Greif vom Himmel geschossen; eine Tentakelbestie hat mich angefallen; ich war in einem Eisblock eingeschlossen; bin von Räubern gefangen genommen worden; mit Briefgreifen und Glücksdrachen geflogen; habe mit einem Werwolf gekämpft ... »Nun, äh. Ich war ziemlich beschäftigt in der letzten Woche.«
»In der letzten Woche? Na, dann schauen Sie sich mal um, was in der letzten Woche passiert ist.« Frau Holle klang aus unerfindlichem Grund immer schriller. Sie warf die Arme hoch, deutete zur Fassade empor und verschwand brabbelnd und kopfschüttelnd im Hausflur.
Karl hatte bisher nur die
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