Isau, Ralf
Anlass.«
»Tatsächlich? Welchen?«
»Nun hab ich ihn so oft ausgesprochen, und immer noch wissen Sie nicht ...« Ärgerlich schüttelte der Alte den Kopf. »Entschuldigen Sie meine Ungeduld. Kurzum: Ich nannte sie Goldäugige Gebieterin.«
»Sie war'n das?«
»Ich glaube, das hat er jetzt deutlich genug erklärt«, sagte Albega, während seine Fingerkuppen auf der kaiserlichen Schatulle trommelten.
Wieder suchten Karls Augen das erwartungsvolle Gesicht des Boten. Eigentlich gab es nur einen Namen für das Mädchen mit den Bernsteinaugen. »Weisenkind«, sagte er leise. Eine Windbö ließ plötzlich die Fenster des Arbeitszimmers erzittern.
»Wieso denn das?«, fragte der Bücherdrill.
»Sie ist ein Kind und trotzdem weise wie eine alte Frau. Ich finde den Namen passend.«
Qutopía seufzte verzückt.
»So soll es sein«, verkündete Flatterich. »Dann darf ich Weisenkind also ihren neuen Namen überbringen?«
Karl nickte scheu.
Der Grünling verbeugte sich. »Ich muss mich sputen, damit das Leiden der Goldäugigen Gebieterin endlich ein Ende findet.« Er drehte sich um, lief zu der Tür im Sprossenfenster, öffnete sie und trat auf den Balkon.
»Nicht goldäugig – bernsteinäugig«, rief Karl ihm nach, doch der Bote hörte es nicht mehr.
Flatterich stieß einen komplizierten Pfiff aus. Wenige Augenblicke später segelte ein Schatten, so groß wie ein Pottwal, am Fenster vorbei. Er stieg auf die steinerne Brüstung. Als der Poststorch abermals am Balkon vorbeiflog, sprang der Grünling nach vorn. In einer dritten Runde verabschiedete er sich winkend – und nun auf dem Rücken des riesigen Vogels sitzend – von den zwei Meisterbibliothekaren und ihren Gefährten.
»Er braucht sich gar nicht so zu beeilen«, sagte Herr Trutz lächelnd. In einem seiner Augen glitzerte eine Träne.
Verwundert sahen Karl und Albega den Alten an.
Qutopía, selbst eine erfahrene Luftfahrerin, hatte es bereits bemerkt. »Die Brise, die durchs offene Fenster hereinweht – spürt ihr es nicht? Sie ist lau und warm. Wie ein Sommerwind.«
∞
Er hatte das Gefühl, ewig in ihren grünen Augen umherfliegen zu können und nie landen zu müssen. Nachdem Karl mit Qutopía auf den Balkon des Arbeitszimmers hinausgetreten war und sie eine Weile genussvoll die laue Luft eingesogen hatten, die das Wiedererwachen Phantásiens verkündete, war das Drachenmädchen in trauriges Schweigen
versunken.
»Was ist mit dir, Qutopía?«, fragte Karl.
»Das frage ich dich«, antwortete sie.
»Ich verstehe nicht...«
»Doch, Karl. Du weißt, wovon ich rede. Unten in der Drusenkammer werden die Perlen durch die schwarze Hand gezogen. Bald sind alle gebundenen Bücher wieder frei. Deine Aufgabe hier geht zu Ende. Was wirst du jetzt tun?«
Er zuckte die Achseln. »Du hast es ja gehört. Thaddäus will sich zum Narren machen ...«
»Karl!«
»Schon gut. War nicht so gemeint. Er wird zu Hallúzina gehen und für immer in Phantásien bleiben.«
»Findest du den Preis, den er dafür zahlt, zu hoch?«
Unbehaglich erwiderte er ihren herausfordernden Blick. »Der ehrenwerte Thaddäus hat sein Leben mit einem Tagesmarsch verglichen, der bald im Sonnenuntergang seinen Abschluss findet. Für mich ist der Morgen gerade erst angebrochen.«
Sie nickte verstehend. »Dann wirst du mich also verlassen.«
Karls Herz klopfte heftig in seiner Brust. Voller Schmerz sah er in Qutopías trauriges Gesicht. Er wischte mit dem Daumen eine verirrte Träne von ihrer Wange und versuchte zu lächeln. »Nicht wirklich, Qutopía.«
»Und was heißt das?«
»Du wirst immer bei mir sein. Hier drinnen.« Er deutete auf sein Herz.
Abermals nickte sie und sagte trotzig: »Ich wollte sowieso nach Hause fliegen und nach meinem Vater sehen.«
»Qutopía?«
»Was ist?«
»Ich glaube, du hast mich noch immer nicht richtig verstanden. Ich liebe dich, mein Drachenmädchen.«
Jetzt konnte sie die Schleusen ihrer Tränen nicht länger geschlossen halten. Sie sank in Karls Arme und schluchzte: »Aber ich liebe dich doch auch, du großer, tapsiger Bär.«
»Hör mal! Du sprichst mit dem Retter Phantásiens.«
»Ja, aber ohne seine wagemutige Gefährtin wäre er nicht weit gekommen.«
Beide lachten, wenngleich in ihrer Heiterkeit noch immer ein Hauch von Bitterkeit schwang.
Schließlich fragte Karl: »Denkst du, dein Vater würde dir auch in Zukunft hin und wieder den Glücksdrachen borgen?«
Sie sah ihm ernst ins Gesicht, aber ihre Augen begannen mit einem Mal zu
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