Isch geh Schulhof: Erfahrung
betrete die Halle. Seit meiner Schulzeit scheint sich nicht viel geändert zu haben. Das abgelatschte Parkett hat an vielen Stellen Lücken, und auf den Heizungen hat sich eine dicke Staubschicht angesammelt. Beim Blick in den Geräteraum schüttele ich frustriert den Kopf: zerbrochene Hula-Hoop-Reifen liegen zwischen zerfransten Schaumstoffbällen, die Turnmatten haben Löcher, die Medizinbälle sind eher Medizineier, und sämtliche Springseile sind zu einem gigantischen Knoten verschlungen. Der Zustand der Geräte interessiert mich zwar nicht, aber zweifelsfrei sind die Dinger älter als ich. Ich atme tief durch, entdecke im Schrank ein paar brauchbare Bälle und schmeiße sie zum Spielen in die Halle.
Ali, der als Erster in die Halle kommt, rennt brüllend auf die Bälle zu, schießt alle wie wild in der Gegend herum und erzählt mir dann, dass in der Umkleidekabine der Jungs eine Prügelei stattfinde. Ich rase also nach oben, öffne ruckartig die Tür und muss mir beim Anblick von Müllschnitten-Jack, der in Unterhosen heulend auf der Bank sitzt, erst einmal ein spontanes Lachen verkneifen. Oktay wird von drei starken Jungs zurückgehalten und wirkt, als würde er vor Wut gleich explodieren. Diese ungezügelte Aggression ist mir vollkommen fremd. Ich glaube, ich habe mich in meinem ganzen Leben noch nie so aufgeregt, wie er es gerade tut.
»Was ist hier los?«, will ich von ihm wissen.
»Jack hat gesagt, meine Mutter is eine Hure!«, brüllt Oktay und verliert dann endgültig die Fassung.
In seinem jetzigen Zustand würde er Jack wahrscheinlich krankenhausreif prügeln. Khalim wirft brüllend ein, dass Oktay mit dem Streit angefangen habe, macht dabei allerdings den Fehler, zu nah neben dem Beschuldigten zu stehen, sodass er für seinen Verrat direkt einen Tritt zwischen die Beine kassiert. Als Kampfsportler hat sich Khalim jedoch schnell erholt, nimmt augenblicklich seine professionelle Boxerhaltung ein und holt zur gezielten Geraden aus. Bevor er Oktay in die Seile schickt, gehe ich jedoch dazwischen, umfasse Oktays Oberarme mit beiden Händen und drücke sie fest an seinen Körper, damit er sich nicht mehr bewegen kann.
» BERUHIG DICH JETZT !«, brülle ich ihn an und schaue ihm aus drei Zentimetern Entfernung in die Augen. Dann herrscht Ruhe. Für Geierchens Ratschlag, meine Stimme zu schonen, ist es jetzt definitiv viel zu spät. In diesem Moment höre ich eine kreischende Mädchenstimme und eine zufallende Tür.
»Mann, diese Schlampen kommen immer hier rein!«, heult Jack auf, der immer noch fast nackt auf der Bank sitzt. Weil sein Schlüpper von seiner blassen Hautmasse fast komplett verschluckt wird, gibt er eine ziemlich jämmerliche Figur ab. Wie wird der arme Kerl wohl mit achtzehn aussehen?
Melek reißt mich aus meinen Gedanken.
»Herr Müller, komm schnell rüber, zwei Mädchen kloppen sich ieberkrass!«
»Aber ich darf nicht zu …«
» SCHNELL !«, wiederholt sie panisch und rennt durch den Waschbereich in die Kabine der Mädels. Für diesen speziellen Sonderfall gibt es nur eine Lösung: Ich folge ihr und betrete die Kabine der Mädels – mit geschlossenen Augen. Die erschrockenen Rufe beruhigen sich schnell, als alle gemerkt haben, dass ich nichts sehen kann. Dann erkläre ich ihnen, dass ich trotz geschlossener Augen alles höre, und kündige an, den Sportunterricht bei dem nächsten Vorfall dieser Art durch ein benotetes Diktat zu ersetzen. Nach einer kurzen, aber heftigen Ansage in der Kabine der Jungs renne ich wieder in die Turnhalle. Dort haben sich die bereits umgezogenen Schüler am Müll im Geräteraum bedient und beschmeißen sich mit den Teilen zerfetzter Schaumstoffbälle und den Überresten zerbrochener Hula-Hoop-Reifen. Ich stehe einen Moment lang kurz vor der Kapitulation, doch dann fällt mir wieder meine Pfeife ein. Mit den Fingern in den Ohren trillere ich so laut ich kann und beobachte, wie die Kinder zusammenzucken. Entschlossen stampfe ich auf den Wildesten der Chaostruppe zu, reiße ihm den kaputten Ball aus der Hand und zeige auf die Bank.
»Aber …«, beginnt Justin beleidigt, doch ich lasse ihn nicht aussprechen, sondern mache noch einen weiteren Schritt in seine Richtung, sodass er sich widerwillig hinsetzt.
Immer wieder mache ich die Erfahrung, dass Körpersprache viel besser funktioniert als das ständige Gebrülle. Als der Großteil der anderen Schüler aus den Umkleidekabinen endlich in der Halle angekommen ist, pfeife ich erneut und signalisiere den
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