Isch geh Schulhof: Erfahrung
reibt sich die Schulter.
Khalim, der sich von meinem strengen Blick offensichtlich ertappt fühlt, setzt sich in Höchstgeschwindigkeit auf seinen Platz und nimmt wieder seine scheinbar brave Haltung ein.
»Was ist gerade passiert, Melek?«, frage ich sie und schaue Khalim dabei streng an, während ich auf ihn zugehe.
»Er hat mein Schulter geboxt!«
»Jetzt hör mir mal gut zu«, sage ich leise drohend, bevor er auch nur die Stimme erheben kann. »Ich möchte nie wieder erleben, dass du jemanden schlägst. Verstanden?«
»Aber ich …«
»Hast du mich verstanden?«, will ich nachdrücklich von ihm wissen und starre ihn so lange an, bis er widerwillig nickt.
Im Umgang mit harten Jungs habe ich mir ein paar Regeln angewöhnt. Nummer eins: Zeig keine Gnade! Nummer zwei: Hab immer das letzte Wort! Nummer drei: Lass ein paar Minuten vergehen, geh dann hin und such das Gespräch oder mindestens einen versöhnlichen Blick. Sonst verhärtet sich das Verhältnis, und man hat sich einen echten Feind geschaffen, was die spätere Zusammenarbeit nahezu unmöglich macht.
Sowieso musste ich lernen, mein eigenes Unbehagen als Lehrer ständig zu ignorieren und selbst auf die unmöglichsten, frechsten und aggressivsten Schüler immer wieder zuzugehen. Das Unprofessionellste, was einem als Lehrer passieren kann, ist, die beleidigte Leberwurst zu spielen. Schließlich handelt es sich hier um Menschen, für die das Gleiche gilt wie für mich und alle anderen auch: Sie haben sich nicht ausgesucht, so zu sein, wie sie sind.
Meine letzte Station in der Klasse ist wieder ein einzelner Tisch, der ganz vorne neben der Tafel steht. Daran sitzt ein Junge namens Sebastian, der mich aus dunklen Augenhöhlen anschaut und nervös an seinen Fingernägeln knabbert. Er trägt ausgewaschene Klamotten, und die zerschlissene Federtasche auf seinem Tisch enthält nichts außer einem zerkauten Bleistift. In der rechten Hand hält er einen Füller, mit dem er an verschiedenen Stellen des Arbeitsblattes so lange herumgemalt hat, bis darin große Löcher entstanden sind.
»Hey, Sebastian«, beginne ich freundlich, »wie kommst du voran?«
»Na ja«, antwortet er in vier verschiedenen Tonlagen und räuspert sich schnell. »Einklisch ganz gut, aber …«
Er kratzt sich die trockene Haut an den Knöcheln seiner rechten Hand auf und schaut mich verlegen an. Obwohl er ausgesprochen klein und schmächtig ist und auch sonst nichts an ihm auf eine beginnende Pubertät hinweist, befindet sich seine Stimme mitten im Umbruch. Ich schlage ihm vor, sich ein neues Blatt zu holen, was er sofort tut. Er steht auf und hat große Mühe, seine zu große Hose festzuhalten, die ihm mangels Gürtel beinahe über den Hintern rutscht.
Military-Marcel bemerkt das, springt auf, zeigt mit dem Finger auf Sebastian und lacht ihn schallend aus. Sebastian gerät daraufhin sofort in Rage und nutzt seine freie Hand, um Marcel an die Gurgel zu gehen. Das wiederum ermutigt Khalim, in die Rangelei einzusteigen, und auch die beiden libanesischen Scheinzwillinge lassen nicht lange auf sich warten. Innerhalb weniger Augenblicke hat sich eine handfeste Prügelei entwickelt, die von der restlichen Klasse mit lauten Rufen angeheizt wird.
Mit einem gezielten Griff befreie ich Marcels Hals aus Sebastians festem Klammergriff, woraufhin sich auch die restlichen Kampfhähne wieder daran erinnern, sich im Unterricht zu befinden – und nicht auf dem Hinterhof ihrer Wohnsiedlung.
Die Schulglocke beendet die Szene, woraufhin alle Kids ungebremst aus dem Klassenzimmer stürmen. Mit einem großen Schritt nach hinten kann ich mich gerade noch davor retten, mitgerissen zu werden. Frau Sommer schaut mich aus dem hinteren Teil der Klasse an.
»Kaffee?«, fragt sie mich, als alle verschwunden sind.
»Unbedingt!«
Beim Bäcker angekommen, erklärt sie mir, dass die 5a wegen schwerer Disziplinprobleme nach dem dritten Schuljahr aus zwei Klassen zusammengelegt wurde und es im vierten Schuljahr einen Klassenlehrerwechsel gab, sodass sie für die meisten der Kinder die vierte Klassenlehrerin ist. Die schlechte Gruppendynamik sei typisch für solche Klassen, erklärt sie mir, und lobt mich anschließend für meinen strengen Auftakt.
»Fällt mir nicht immer leicht«, gebe ich zu, »aber ich hab im letzten Schuljahr viel gelernt – vor allem durch Misserfolge.«
Sie lächelt. Gemeinsam gehen wir die Notizen der vorherigen Klassenlehrerin durch und graben uns ganz tief in die menschlichen Schicksale
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